6 Der apokalyptische Charakter des Danielbuches.

 

Daniel beschäftigt sich in seinen Visionen mit zukünftigen Dingen. Das Wort Apokalypse bedeutet Offenbarung oder genauer gesagt Enthüllung. Darunter zählt man auch die Schriften der Propheten, die sich mit spektakulären Ereignissen beschäftigen, die in der Zukunft geschehen sollen. Sie werden apokalyptische Schriften genannt, obwohl dies der Wortbedeutung widerspricht. Denn apokalyptisch im Sinne einer Enthüllung ist das in der Zukunft eintreffende Ereignis. Die apokalyptische Aussage des Propheten hingegen ist meist eine verhüllte Vision. Selten werden Namen genannt, noch seltener Zeiten, obwohl auch das vorkommt, wie im Falle des Kyros. Daniel nun hat vieles geschrieben, was erst die Zukunft enthüllte. Aber viele seiner Vorhersagen waren keine wirklich spektakulären Ereignisse, so sehr es die Visionen auch waren, sondern sie stellten sich als integriert in die normale Weltgeschichte heraus. Nehmen wir zum Beispiel die Vision vom Auftreten eines griechischen Königs, der das Perserreich bezwingen wird und dessen Reich nach seinem Tod in vier Teile zerfällt. Daniel sieht in seiner spektakulären Vision einen Widder der von einem Ziegenbock besiegt wird (Kap. 8). Dies hat sich in Alexander dem Großen erfüllt und in seinem Sieg über die Perser, die danach keine Rolle mehr spielten. Die Tatsache, dass dies vorrausgesagt worden ist, gibt der Geschichte eine andere Dimension. Weltgeschichte kann nun anders wahrgenommen werden, als wenn alles sich nur beiläufig so entwickeln würde. Es macht uns klar, dass Gott die Geschicke der Nationen lenkt und dies hat für unsere Zuversicht weitreichende Konsequenzen. Natürlich wird nicht alles in der Geschichte vorhergesagt und vieles was vorhergesagt wird, bleibt verborgen, bis es eben enthüllt wird. Denken wir nur an die Offenbarung des Johannes, deren Verständnis Mühe bereitet, bis zu dem Tag, an dem die Apokalypse eintritt und sich der Wille Gottes in der Geschichte enthüllt.

Doch bei Daniel ist das irgendwie noch ein wenig anders. Denn bei ihm bleibt eigentlich nicht viel verborgen. Er bekommt nicht nur die verhüllte Vision in Schaubildern, nein, er bekommt immer auch die Deutung mitgeliefert. Mal ist es der Engel Gabriel, mal geht er im Traum zu einen von denen, die da standen, um sich die Bedeutung erklären zu lassen. Und immer erhält er detaillierte Antworten. So wird die Überprüfbarkeit seiner Aussagen leicht und sie wurde auch wahrgenommen in den Jahrhunderten danach. Für die Juden muss es ein unschätzbar wertvoller Trost gewesen sein, praktisch immer zu wissen, was vor sich geht.

Aber das alles wäre natürlich nicht viel Wert gewesen, wäre es nicht verbunden mit der Messiaserwartung. Denn das war ja die Frage, wann er kommen würde, der Gesalbte des HERRN, der den Thron Davids wieder aufrichten würde. Und auch dazu liefert Daniel einiges an Material. Schon in der Vision Nebukadnezars vom Standbild ist er der Stein, der nicht von Menschenhand den Berg herunterrollt und das Standbild, das ein Symbol für das Zeitalter der Nationen ist, zermalmt (2:44-45). Ebenso endet die Zeit der wilden Tiere, als welche die Nationen dargestellt werden, in Kap 7 mit dem Auftritt des Menschensohnes mit den Wolken des Himmels (7:13).

Die aus christlicher Sicht eindeutigste Messiasweissagung ist in Kap 9 zu finden, wo in der Berechnung der 70 Jahrwochen ein Gesalbter (gr. Christus) ausgerottet werden soll und daraufhin der Tempel und die Heilige Stadt erneut zerstört werden sollen. Eine genaue Berechnung der Wochen ist vielfach versucht worden, aber wegen des mehrfachen Wechsels von Zeitrechnungen natürlich nicht exakt möglich, haben wir doch sogar beim Geburtsdatum unseres Herrn mit einer Ungenauigkeit von +/- 3 Jahren zu rechnen. Aber das ist auch nicht wesentlich. Es reicht völlig aus, dass die Ankunft des Messias auf diese Zeit vorrausgesagt worden ist. Mit den 7+62 Jahrwochen in Vers 25 kommt man vom Mauerbau Jerusalems an gerechnet ziemlich gut auf das Kreuzigungsjahr Jesus hin, die „Ausrottung des Gesalbten“ (9:26). Bleibt zu den 70 Jahrwochen noch eine übrig und die kann noch erwartet werden. Denn mit der Wirksamkeit des Evangeliums hat Gott seine Aufmerksamkeit vollends den Heiden zugewendet bis ihre Vollzahl eingegangen ist. Dann wird er sich wieder Israel widmen und die Sache zu einem Ende bringen. So wird allgemein von bibelgläubigen Auslegern der Vers 27 in die Zukunft verlegt, zumal ja auch Jesus darauf bezug nimmt und das „Gräuelbild der Verwüstung“ für die Zeit vor seiner Wiederkunft anberaumt (Math. 24:15).
Auch in den letzten drei Kapiteln, in denen Daniel seine letzte Vision erhält, finden wir in 10:5-6 die Beschreibung eines Mannes, die der in Off. 1:13-17 sehr ähnelt, aber auch Hes. 1:26. Es könnte sich hier um den präexistenten Christus handeln. In diesen Kapiteln wird datailliert aufgelistet, was in den 70 Jahrwochen geschehen soll, wobei das Greuelbild der Verwüstung wieder zwei mal vorkommt. Beim ersten Mal (11:31) lässt es sich auf Antiochus IV Epiphanes deuten, der um 167 v. Chr. Jerusalem überfiel und ausplünderte. Er verbot den Jahwekult und ließ im Tempel eine Zeusstatue zur Anbetung aufstellen, die seine Gesichtszüge trug. Dies führte zum Makkabäeraufstand der Juden, („die kleine Hilfe“ 11:34). Das zweite Mal finden wir das Greuelbild in 12:11. Hier haben wir allerdings wieder eine echte apokalyptische Weissagung, die erst in der Zukunft enthüllt werden muss. Denn nach 12:4 ist dieser letzte Abschnitt versiegelt, so wie auch die fehlende Jahrwoche die hier auch wieder vorkommt. Darüber sollte Daniel keine Klarheit erhalten, wohl aber Generationen nach ihm (12:9-10)