Das prophetische Gesamtwerk der Heiligen Schrift

Es ist schwer, die Propheten zu verstehen, wenn man nicht über die eschatologische Gesamtschau verfügt, mit der man sich in der Landschaft zurechtfindet, wie mit einer Landkarte. Eine solche gibt uns die Bibel aber trotz der Vielzahl an konkreten Offenbarungen nicht. Es ist daher immer wieder davon gesprochen worden, dass die prophetische Perspektive der Geschichte der Betrachtung einer Gebirgslandschaft gleicht. Man sieht die Höhen, aber nicht die Täler und man kann vor allem nicht abschätzen, wie groß die Ausdehnung der Täler ist, wieviel Zeit also von einem Höhepunkt zum anderen zu veranschlagen ist.

Wir wissen also meist recht gut was geschieht, wir wissen aber nicht wann es geschieht. Dieses Problem besteht für alle prophetischen Aussagen eschatologischer Natur, mit einer Ausnahme: die Ankunft des Messias in Israel wurde in Dan. 9:24‑26 zeitlich genau mit der Berechnung der 70 Jahrwochen vorausgesagt.

Unter Eschatologie verstehen wir die Lehre von den letzten Dingen, dem Endschicksal der Menschheit. In den Geschichtsbüchern finden wir in der Heiligen Schrift nur vereinzelt Aussagen darüber. Sie hatten einen anderen Zweck. Sie dokumentierten vor allem den Zustand des Volkes Israel und die Propheten stellten seine zunehmende Gerichtsreife fest. Die Konsequenzen für das Scheitern des Gesetzesbundes waren bekannt und das Ereignis war nun eingetreten (3. Mose 26:14-39). Wie es weitergehen sollte, erörterten die historischen Bücher nur theoretisch, indem auch schon erwähnt wurde, dass Gott sein Volk wieder annehmen würde, wenn es Buße täte, nicht zuletzt wegen des anderen, älteren Bundes, den Gott mit Abraham, Isaak und Jakob gemacht hatte (siehe moabitischer Bund 5. Mose 28-30). Davon spricht auch 3. Mose 27:40-46 und es fällt auf, dass die Wiederannahme Israels nicht als Möglichkeit im Falle einer Umkehr erwähnt wird, sondern bereits als Vision, also als prophetische Sicht eines Ereignisses das eintreten wird. Die Buße des Volkes wird sich ereignen und das Volk wird wieder aus der Feinde Land zurückkommen. Diese ganze Geschichte Israels bis zum Zeitpunkt der Verwerfung und Wiederannahme wirft natürlich eine ganze Menge von Fragen auf.

 

Die erste prophetische Aussage des Wortes Gottes finden wir in 1. Mose 3:15 :

„Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.“

Der „Erbschuld“, die Adam auf die gesamte Menschheit übertrug, wurde auch das „Erbe des Rechtes auf eine Erlösung“ gegenüber gestellt, das die gesamte Menschheit betreffen sollte. Der Nachkomme einer Frau, also ein Mensch, würde den besiegen, der das Unglück ausgelöst hat, nämlich Satan. Die Juden fühlten sich seit jeher dazu berufen, das Volk zu sein, aus dem dieser Mensch hervorgeht, der der Welt das Heil bringen sollte. Das ist die eschatologische Sicht der ersten Stunde und in diesem Zusammenhang ist auch die Verheißung an Abraham zu deuten (1. Mose 22:18):

„durch dein Geschlecht sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden!“

Nun war dies aber wie ein gescheitertes Experiment. Die Vorstellung der Israeliten musste gewesen sein, dass sich von Jerusalem aus eine Macht etablieren würde, eine Theokratie Jahwes, die der ganzen Welt zum Heil gereichen würde. Dieser Traum war geplatzt. Was sollte nun geschehen? Wie würde sich die Wiederannahme des Volkes abspielen und wie sollte der Messiaskönig zu erwarten sein?

Alle diese Fragen beantworten die Schriftpropheten nun tatsächlich. Aber über allem liegt ein Siegel, ein Schleier des Geheimnisvollen, der sich nicht lüften lässt und der dazu mahnt, in Geduld abzuwarten, bis die Geschichte selbst den Schleier abzieht und die Siegel bricht. Als Grundtenor bleibt aber die Hoffnung Israels, dass das Ziel dennoch erreicht werden wird. Es gibt aber keine Chronologie der künftigen Ereignisse, keinen Fahrplan in die Zukunft. So konnten auch selbst die Schriftgelehrten nicht erkennen, dass der Messias zuerst verworfen werden würde und dass sich das Heil vorerst nicht auf politischem sondern geistlichem Weg (durch die Wiedergeburt derer die es annehmen) verwirklichen würde. Das was die Juden erwarteten, die Wiederherstellung Israels in seiner alten Herrlichkeit, durch den Aufbau des Tempels, stand zu sehr im Vordergrund (Jes. 60:14):

„Es werden gebückt zu dir kommen, die dich unterdrückt haben, und alle, die dich gelästert haben, werden niederfallen zu deinen Füßen und dich nennen »Stadt des HERRN«, »Zion des Heiligen Israels«.“ 

Das ganze Kap 60 von Jesaja ist exemplarisch für das, was wir als Zukunft Israels anerkennen müssen, aber unter dem Titel des Millenniums und des neuen Jerusalems, von dem uns Off. 20+21 berichtet. Denn bereits beim Bau der Stiftshütte fanden wir ja, dass diese nur ein Abglanz des Himmlischen sein sollte, das Moses auf dem Berg sah und beim Tempel war das nicht anders. Hesekiel sieht denn auch diesen Originaltempel in den Kap. 40-48 und es war klar, dass damit nicht der Tempel zur Zeit Esras und schon gar nicht der herodianische zur Zeit Jesu gemeint sein konnte.

Den Juden verstellte diese Aussichte auf eine zukünftige Herrlichkeit den Blick dafür, dass Gott schon längst parallel zur Geschichte Israels eine andere Geschichte betrieb. Das Zeitalter der Nationen hatte begonnen, als Jerusalem fiel und die Herrlichkeit des Herrn wich, die durch den Tempel Salomos repräsentiert gewesen war (siehe Einweihung des Tempels 2. Chr.7 und vgl. mit Hes. 10+11). Das erste Anzeichen für das Anbrechen einer neuen Zeit fanden wir aber bereits in der Salbung Hasaëls zum Aramäerkönig (1. Kön. 19:15), daran konnten auch die gewaltigsten Propheten Elia und Elisa nichts mehr ändern. Von da an nahm das Unheil seinen Lauf bis zur Wegführung in die Gefangenschaft.

In der Rückführung unter Esra und Nehemia wurde aber deutlich, dass Jerusalem seine Herrlichkeit nicht wieder erlangte und das blieb auch so bis zur Zeit Jesu. Danach wurde die Situation noch schlimmer, denn das Volk wurde nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer, 70 n. Chr. erneut zerstreut, diesmal in alle Himmelsrichtungen. Die Zeit der Trennung Israels von Jerusalem war und ist nun endgültig zur Zeit der Heiden geraten. Vom Standpunkt des Alten Testamentes aus ist es eine finstere Zeit (Hes. 30:2-3):

„So spricht Gott der HERR: Heulet! Wehe, was für ein Tag! Denn der Tag ist nahe, ja, des HERRN Tag ist nahe, ein finsterer Tag; die Zeit der Heiden kommt.“ 

Vom Standpunkt des neuen Testamentes aber ist es eine Zeit der Gnade (Rö. 1:5):

“Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt, in seinem Namen den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden„

Tatsächlich kann man beide Standpunkte während der letzten 2000 Jahre parallel betrachten. Durch die Jahrhunderte sind Menschen an Christus gläubig geworden und haben so das Heil erlangt. Aber gleichzeitig hat sich auch das Wort Hesekiels erfüllt: Es war keine Zeit des Friedens und der politischen Verwirklichung von Gerechtigkeit, sondern es war eine finstere Zeit, bei weitem nicht nur auf das Mittelalter bezogen, dem man gerne dieses Attribut exclusiv zuordnet. Tatsächlich erscheint heute das 20. Jh. als das grausamste aller Zeiten und es ist nicht absehbar, dass der Höhepunkt der neuheidnischen Gewaltherrschaft nach dem Wegfall der einst vom Christentum geprägten Paradigmen bereits erreicht ist.

 

Aber diese Zeit der Heiden sieht Paulus auch einmal zu Ende gehen (Rö. 11:25):

„Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist;…“

Gleichzeitig aber wird dann Israel wieder seine alte Bedeutung erlangen (V26):

„…und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«“

Dass die Wiederannahme Israels aber eine völlig neue Zeit sein wird, in der die alten Verhältnisse nicht mehr gültig sein werden, sagt Paulus in Rö 11:15 :

„Denn wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt ist, was wird ihre Annahme anderes sein als Leben aus den Toten!“

Damit verbindet Paulus die Wiederannahme Israels mit dem Gericht, an welchem die Toten auferstehen werden. Hierzu verfolgt nun die Offenbarung des Johannes ihre eigene Linie, die aber durchaus mit den AT-Propheten immer wieder korrespondiert. In ihr finden wir die Annahme Israels verwirklicht durch die 144.000 Versiegelten aus den Stämmen Israels (Off. 7:1-8 / Hes. 9:4). Gleich im Anschluss daran wird die Schar der Erlösten aus allen Nationen gesehen (Off. 7:9). Dazu haben wir zwar keine derartige Sicht bei den AT-Propheten. In Kap. 11 jedoch, wo uns die beiden Zeugen in Jerusalem begegnen, erinnern uns erneut viele Aspekten wieder an Aussagen der AT-Propheten: V1 an Hes. 40:2, 24 und Sach. 2:5-6; und V4 an Sach 4:3, 11-14. Zudem finden wir bei ihnen die Macht, die Wunder des Elia und des Moses zu wirken (1.Kön.17:1; 2.Mo.7:19-20).

Das alles zeigt uns deutlich, dass Jerusalem noch eine Zukunft hat und auf diese Zukunft deuten die Propheten des Alten Testamentes auch hin. Dies ist eine ihre Hauptaufgaben. Dabei unterscheiden sie nicht streng zwischen der näheren und der ferneren Zukunft, also der Zeit bis zum Kommen Jesu und der Zeit nach dem Zeitalter der Nationen. Eine zweifache Ankunft des Messias kennt das AT ja nicht.

Viele Kapitel der Schriftpropheten beschäftigen sich auch noch mit dem aktuellen Zeitgeschehen, also den traditionellen Anliegen der Propheten. Eine Hauptaufgabe ist aber die Darstellung des Messias, oder des Gesalb­ten des Herrn. Hier muss nun offen bleiben, wie weit sich die Propheten dessen bewusst waren, was die Aussagen wirklich bedeuten die sie machten. Denn der Empfang des Wortes Gottes durch einen Propheten bedeutet ja nicht unbedingt, dass er dieses auch versteht (1. Petr. 1:10-12).

Man kann also durchaus von einem Geheimnis sprechen: (Rö 16:25-27)

„Dem aber, der euch stärken kann gemäß meinem Evangelium und der Predigt von Jesus Christus, durch die das Geheimnis offenbart ist, das seit ewigen Zeiten verschwiegen war, nun aber offenbart und kundgemacht ist durch die Schriften der Propheten nach dem Befehl des ewigen Gottes, den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden: dem Gott, der allein weise ist, sei Ehre durch Jesus Christus in Ewigkeit! Amen.“

Dies alles müssen wir bei der Betrachtung der Propheten berücksichtigen, wenn wir sie verstehen wollen.