Einleitung in die Prophetischen Bücher

(Auszug aus Einführung in das alte Testament, EBÖ Skriptum ©J.Schoor)

Wenn das Alte Testament bei Buch Esther enden würde, dann könnte man durchaus die Vorstellung aufrecht erhalten, dass Israel keine Zukunft mehr hätte. Es wäre ausreichend begründet, warum das Volk scheiterte und in den Berichten vom Ende des davidischen Königreiches, das auch nach der babylonischen Gefangenschaft trotz Tempelbaues nicht mehr aufgerichtet werden konnte, wäre bewiesen, dass das Volk das Heil verwirkt hatte, das ihm in der Erfüllung des Mosebundes versprochen worden war.

Auch die Verheißungen die den Erzvätern gegeben wurden, wären in Jesus Christus in Erfüllung gegangen. Schließlich wurden durch ihn alle Völker der Erde gesegnet (1. Mose 12.3). Da Jesus auch aus der Linie Davids stammt, könnte bei seiner Wiederkunft auch die  Verheißung einer ewigen Krone für das Haus Davids noch in Erfüllung gehen (2. Sam. 23:5), ohne dass dabei Israel als Nation noch eine Rolle spielen müsste. Doch im Wesentlichen wird nun durch die Schriften der Propheten die Geschichte Israels weiter geschrieben und visionär weit in die Zukunft projiziert, bis zum Anbrechen einer neuen Welt Gottes.

Wir haben in den 17 historischen Büchern (1. Mose bis Esther) das ganze Panorama der Geschichte Israels vor uns liegen (siehe Tabellen im Anhang). Weiters finden wir den Schatz der poetischen Bücher und der Weisheitsliteratur Israels. Aber ohne die folgenden weiteren 17 Bücher der sogenannten Schriftpropheten (Jesaja bis Maleachi) könnten wir keine zuverlässigen Aussagen darüber treffen, wie sich die Zukunft Israels weiter gestalten würde. Wir stünden auch im Dunkeln darüber, wie sich nun die Verheißung des Segens über alle Völker verwirklichen würde und ob es nach dem gebrochenen Alten Bund je wieder einen Neuen Bund geben würde, den Gott mit Menschen schließen würde.

So haben wir in den Schriftpropheten eine Fülle von Aussagen zu allen diesen Themen, die uns einen klaren Weg weisen, nicht zuletzt auch zum Verständnis des Neuen Testamentes. Die Schriftpropheten werden so genannt, weil sie eben diese 17 Bücher schrieben. Das heißt aber nicht, dass sie nur geschrieben haben. Sie haben zu ihrer Zeit auch gepredigt. Es heißt weiters auch nicht, dass sie die einzigen schreibenden Propheten waren. Von Mose über Samuel bis zu Gad und Nathan haben viele Propheten geschrieben. Doch ihre Werke hatten vorwiegend historischen Charakter. In der chronologischen Erfassung und Kommentierung dessen, was sich ereignete, sahen sie ihre Hauptaufgabe. Und wenn wir den Inspirationsgedanken auf alle Schreiber der Bibel anwenden, wie wir das in der Einleitung getan haben (S4), dann müsste man eigentlich auch Esra, Nehemia u.a. unter die Schriftpropheten einreihen, denn jeder der Gottes Wort empfangen hat und es in Wort oder Schrift weitergegeben hat, darf auch Prophet genannt werden.

Doch in den letzten Büchern der Bibel geht es eben nicht mehr vornehmlich um die Abfassung historischer Berichte. In ihnen geschieht, selbst wenn sie sich mit Historie befassen, viel mehr, nämlich eine Aufdeckung der Hintergründe und Zusammenhänge. Es findet eine Klärung der Schuldfrage statt und die Proklamation der damit in Verbindung stehenden Gerichte. Aber es geht darüber hinaus nicht nur um Gericht, sondern auch um Heilung und Wiederherstellung. Und das ist es, was diese Schriften so wichtig macht. Denn hier weisen sie tatsächlich einen Weg in der Finsternis (2. Petr. 1:19), der sich wie ein leuchtender Pfad durch die Zeit der Herrschaft der Nationen zieht und anzeigt, dass auch in Bezug auf Israel das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Jes. 54:10 „Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.“

Dieser Vers ist exemplarisch für den Grundton der Bücher, wenngleich dieser immer wieder unterbrochen wird von Kapiteln, die einer regelrechten Gerichtsverhandlung gleichen. Der Bundesbruch wird hier im Gegensatz zu den historischen Berichten datailliert aufgelistet, in all seinen Aspekten. Die Untreue des Volkes wird angeprangert. Doch nicht nur Israel trifft es. Auch das Gericht über die Nachbarvölker und die aufstrebenden Nationen wird weitgehend begründet und im Gegensatz zu Israel bedeutete dies für einige Völker sogar das Ende ihrer Existenz.

So ergibt sich daraus zwangsläufig, dass die Schriftpropheten sich mit der Zukunft auseinandersetzten. Im Gegensatz zu den anderen Propheten, die auch gelegentlich ein Ereignis, meist der näheren Zukunft, voraussagten – von deren Erfüllung ja auch ihre Glaubwürdigkeit abhing (5. Mose 18:22) – taten die Schriftpropheten dies nun aber in einer sehr exzessiven Weise. Lange Kapitel oft ineinander verschachtelter Themen weisen nicht nur in die nähere, sondern auch in die ferne Zukunft. Ja bis an das Ende der Tage, bis zum großen Tag Jahwes (Joel 3:4), reicht ihre Sicht und sie sparen dabei nicht mit Details.

Deshalb sind die Propheten für uns als Christen mindestens ebenso wichtig geworden wie für das jüdische Volk, nicht nur was die messianischen Verse betrifft, die den Jüngern den wichtigen Hinweis gegeben haben, in Jesus den Christus zu erkennen (Luk. 24:27). Auch in den Aussagen über die Ereignisse der letzten Tage vor dem zweiten Kommen Jesu finden wir die notwendigen Entsprechungen, die uns helfen, die prophetischen Aussagen des Neuen Testamentes besser zu verstehen.

Damit haben wir aber auch eine entscheidende Erweiterung des Prophetenbegriffes selbst. Der Prophet war noch bis Elia und Elisa vorwiegend ein Erweckungsprediger. So wie die Priester das Volk vor Gott vertraten, so vertraten die Propheten Gott vor dem Volk. Sie waren sein Sprachrohr. Auch die verschiedenen hebräischen Titel der Propheten zeigen dies:

  • Prophet (Nabi): was soviel heißt wie ein berufener Sprecher für jemanden. In 2. Mose 7:1 wird Aaron der Prophet des Mose genannt, was auf den profanen Gebrauch des Wortes hindeutet. Später wurde der Begriff aber nur mehr für einen im Auftrag Jahwes Redenden verwendet.
  • Seher oder Schauer (Ro’äh od. Chosäh): einer der etwas sieht, was andere nicht sehen, sei es in Träumen und Visionen oder auch durch vom Geist geleitete Intuition. Hier wird mehr die Art des Empfanges der Botschaft betont, während bei Prophet mehr die Weitergabe derselben gemeint ist.
  • Gottesmann (isch hã‘elohim): diese Bezeichnung scheint vor allem dann verwendet worden zu sein, wenn einem Propheten als solchem bereits Anerkennung zuteil wurde, denn so wurden auch Mose und David genannt (5. Mose 33:1; 2. Chr. 8:14).  

Aus diesen Männern die, stets den Kontakt mit dem Volk gesucht hatten, weil sie dieses zur Umkehr bewegen wollten, werden nun zunehmend Apokalyptiker, die in sich gekehrt den Entwurf einer neuen künftigen Welt suchten. Da dies aber für die Gegenwart oft nicht unmittelbar relevant war, war es ganz natürlich, dass sie diese rege schriftstellerische Tätigkeit für die folgenden Generationen entwickelten. Als Trost allerdings war die Apokalyptik der Propheten gerade in der Zeit des Untergangs, des Exils und danach von großer Bedeutung (Jesaja 40:1 „tröstet mein Volk“). Unter Esra scheinen sich die Propheten den Auftrag der geistlichen Erweckung des Volkes mit den Priestern geteilt zu haben.
 

Übersicht über die Schriftpropheten

Die 17 Werke der Schriftpropheten sind in 2 Teile angeordnet. Die 4 großen und die 12 kleinen Propheten. Chronologisch müsste Obadja der erste sein, der zur Zeit Elisas wirkte. Hingegen war Maleachi tatsächlich der letzte Prophet. Übrigens gab es danach keine Propheten mehr in Israel, wenngleich danach auch solche Propheten genannt wurden, die Lehrer des prophetischen Wortes waren.  

 

Die Einteilung der Proph. Bücher:

(v = vor, w = während, n = nach dem Exil)


Die großen Propheten sind ungefähr chronologisch gereiht, die kleinen aber nicht. Ihre Reihung wurde von der hebräischen Bibel übernommen, wo sie ein Buch waren: das Zwölfprophetenbuch. Ihre Zusammenstellung geht wahrscheinlich auf die große Synagoge unter Esra zurück.