9. Das Vollkommene (1. Kor. 13:8-13)

Was ist das Vollkommene das uns in 1. Korinther 13:10 beschrieben wird? Von der Auslegung diese Begriffes hängt sehr viel ab, das nicht nur unsere Ansichten über die Liebe, sondern auch über die Gnadengaben beeinflusst. Paulus beschreibt das Vollkommene mit zwei Bildern, das Bild des Unmündigen (Kindes) und das Bild des Spiegels. Wie sind beide Bilder anzuwenden und in Übereinstimmung zu bringen. Erst wenn das gelingt, haben wir die richtige Auslegung.

 

(8) Die Liebe hört niemals auf. Aber seien es Weissagungen, sie werden weggetan werden; seien es Sprachen, sie werden aufhören; sei es Erkenntnis, sie wird weggetan werden. (9) Denn wir erkennen stückweise und wir weissagen stückweise; (10) wenn aber einmal das Vollkommene da ist, dann wird das Stückwerk weggetan. (11) Als ich ein Unmündiger war, redete ich wie ein Unmündiger, dachte wie ein Unmündiger und urteilte wie ein Unmündiger; als ich aber ein Mann wurde, tat ich weg, was zum Unmündigsein gehört. (12) Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels wie im Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht; jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. (13) Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte aber von diesen ist die Liebe.

Das letzte mal haben wir uns die Verse aus 1. Kor. 13:4-7 angesehen, in denen die Liebe beschrieben wird. Heute beschäftigen wir uns im nachfolgenden Text ganz mit dem Ziel der Liebe. Ich möchte an einem Bild erklären was ich meine, indem ich Euch von meinem ehemaligen Nachbarn erzählen, Wir haben beide zur gleichen Zeit begonnen unser Haus zu bauen. Ihr wisst ja, dass wir in einer Reihenhaussiedlung wohnen. Wir lernten uns noch vor den Aushubarbeiten für den Keller kennen und jeder hatte so seine Pläne, entsprechend seiner finanziellen und sonstigen Möglichkeiten.Es war nun interessant zu beobachten wie sich das alles so entwickelte. Ich möchte mal sagen, dass ich nicht gerade zwei Linke Hände habe, aber die handwerkliche Begabung zählt andererseits auch nicht zu meinen Stärken.

Ganz anders bei meinem Nachbarn. Er hatte diese Begabung und auch den Ehrgeiz, dass sein Haus besonders gediegen gebaut werden sollte. Natürlich wäre das alles überhaupt kein Problem gewesen, wenn wir alle über genügend Geld verfügt hätten, dann hätten wir wahrscheinlich beide nur eine Baufirma mit allem betraut. Doch dem war nicht so. Wie sich bald herausstellte, war der Baufirma nicht recht zu trauen und deshalb haben sich die meisten der Bauherren dazu entschlossen, nach Fertigstellung des Rohbaues die Sache selber in die Hand zu nehmen, damit die Kosten nicht aus dem Ruder laufen. Da war man nun persönlich gefordert. Wir verbrachten viele Stunden auf der Baustelle, organisierten Material, Handwerker und machten, was nur irgend möglich selber. Mein Nachbar hatte dabei den klaren Vorteil. Er war eindeutig der Begabtere und was immer wir machten, seine Lösungen waren die besseren, wie ich neidlos zugeben musste.

So bauten wir dahin und dann, wir waren noch nicht mit allem fertig, ging es ans Einziehen. Damals waren noch alle Kinder bei uns und das Haus füllte sich mit Leben. Die Freude über die neuen Räume war riesengroß. Doch bei meinem Nachbarn war nicht viel davon zu merken. Während des Baues hatte sich seine Frau von ihm getrennt und die Scheidung eingereicht. So zog er alleine ein, blieb allerdings nur kurze Zeit drin und nachdem das Haus eine Weile leer stand, verkaufte er es.

Warum erzähle ich das? Weil es ein gutes Bild ist für den Unterschied zwischen der Liebe und den anderen Gnadengaben. Das Ziel war klar, nämlich ein Haus zu bauen, einzuziehen und darin glücklich zu leben im Kreis einer lieben Familie. Die Erreichung des Zieles war nur möglich, durch den Einsatz von Gaben. Hier hatte mein Nachbar zweifellos die besseren Karten. Trotzdem erreichte er sein Ziel nicht, es war ihm während des Bauens abhanden gekommen, denn plötzlich war niemand mehr da, der ihn liebte und der mit ihm einziehen wollte.

Wir bauen doch nicht ein Haus, nur um unsere Tüchtigkeit zu bestätigen. Ebensowenig wird Gemeinde gebaut, nur um zu beweisen, was für tolle Leute doch die Christen sind. Aber leider erweist sich dies doch immer wieder als einziges Motiv, denn die Liebe zueinander, die der eigentliche Grund für den Bau des Hauses war, ist in manchen Gemeinden ebenso abhanden gekommen, wie bei meinem Nachbarn. Die Liebe ist das Ziel, das die Phase der Entstehung überdauert und bleibt. Alle anderen Gnadengaben sind nur Werkzeuge, die bei der Entstehung des Hauses wichtig sind, aber dann in den Keller verschwinden und nicht mehr zur Anwendung kommen.

Genau das ist es, was Paulus uns hier mitteilen will. Selbst so große Gaben, wie die Weissagung oder prophetische Rede, wird abgeschafft, sie ist nicht mehr notwendig, sie war nur ein zeitbedingtes Mittel zur Erreichung des Zieles, hatte aber mit dem Ziel selber nichts zu tun. Ebenso die Sprachengabe, sie war nur ein Mittel zum Zweck, zu welchem Zweck die Sprachengabe diente, werden wir uns das nächste mal ansehen müssen, heute geht es um das Ziel.

Aber selbst die Erkenntnis wird ihre Bedeutung verlieren. Wie ist das zu verstehen? Sind wir denn nicht stolz auf unsere Erkenntnis und tauschen sie aus, geben sie weiter. Sie ist es sogar, die uns zur Anbetung animiert, wie wollen wir einen Gott anbeten, den wir nicht zuvor erkannt haben? Paulus sagt es uns: weil unsere Erkenntnis Stückwerk ist, deshalb wird sie ihre Bedeutung verlieren! Die Betonung liegt auf unsere. UNSERE Erkenntnis ist Stückwerk. Weissagung und Erkenntnis wird zusammengefügt wie ein Puzzle zu einem Bild, das wir nur nach und nach in Vollständigkeit erkennen können. Wenn aber das Bild ganz fertig ist, wenn der letzte Stein eingefügt ist, dann haben wir das Vollkommene vor uns und das Suchen und Forschen nach dem Einzelnen, dem fehlenden Stück, wird zu Ende sein.

Das Vollkommene.

Wir haben nun aber zu erklären, was das ist, was Paulus hier als das Vollkommene bezeichnet. Wann ist das Haus gebaut und einzugsbereit? Wann steht das Bild, sodass wir es ganz erkennen können? Das ist eine schwierige Frage, die nicht von allen Auslegern der Bibel gleich beantwortet wird. Manche beantworten sie gar nicht, sie umschiffen sie wie eine gefährliche Klippe. Denn hier verlässt der Text den sicheren Hafen der Ekklesiologie, der Lehre von der Gemeinde und begibt sich hinaus auf das offene Meer der Eschatologie, der Lehre von den zukünftigen Dingen, und nur wenige Theologen sind darin sattelfest.

Aber wir müssen diese Frage beantworten, denn wenn wir nicht wissen, was Paulus hier unter dem Vollkommenen versteht, können wir den Text nicht gänzlich auslegen und verstehen. Im Wesentlichen gibt es, wenn man denn diese Frage beantworten will, drei Möglichkeiten:

  1. Das Vollkommene ist das Wort Gottes
  2. Das Vollkommene ist Jesus selbst, wenn er wiederkommt und uns vollkommen macht.
  3. Das Vollkommene ist die Gemeinde in einem Zustand der geistlichen Reife

Bevor wir aber diese Möglichkeiten genauer untersuchen, wollen wir uns doch noch die beiden Bilder ansehen, die Paulus gebraucht um zu illustrieren was er meint, die Anwendung dieser Bilder muss übereinstimmen, sonst ist unsere Auslegung falsch. Anders ausgedrückt: jede Auslegung, die nicht von beide Bildern unterstützt wird, muss abgelehnt werden.

Bild 1: Vom Kind zum Mann

(11) Als ich ein Unmündiger war, redete ich wie ein Unmündiger, dachte wie ein Unmündiger und urteilte wie ein Unmündiger; als ich aber ein Mann wurde, tat ich weg, was zum Unmündigsein gehört.

Paulus spricht hier von einer eigenen Erfahrung, die er praktisch mit allen Menschen teilt, oder zumindest mit der Hälfte der Menschheit, wenn jemand den Mann hier wörtlich nimmt und glaubt, dass Frauen sich anders entwickeln würden. Aber Scherz beiseite, wir wissen alle genau, was er meint: ein Kind ist anders als ein Erwachsener! Ein Kind denkt anders, handelt anders und reagiert anders; Kinder sind nicht in der Lage rational zu handeln; sie haben noch zu wenig Erfahrung und lassen sich daher stark von ihren Emotionen leiten. Das macht sie einerseits glücklicher als manchen Erwachsenen, denn Kinder kennen keine Sorgen, sie können Probleme nicht in ihrer Tragweite erfassen und leben daher unbeschwert in den Tag hinein. Das soll auch so sein, wir tun gut daran, die Kinder in diesem Zustand zu belassen und abzuwarten, bis sie von selbst durch Reife in der Lage sind Verantwortung zu übernehmen. Doch andererseits sind Kinder auch unselbständig und vor allem schutzbedürftig. Alleine können sie nicht überleben, sie würden ihr Glück bald verlieren. Es braucht immer jemanden, der auf sie schaut und notfalls Entscheidungen für sie trifft, wenn ihre eigenen verhängnisvoll wären.

Gott sei dank, geht das vorbei, denn Kinder können gerade in diesem Punkt ganz schön anstrengend sein, sie haben ihren eigenen Kopf, aber nicht das Verständnis gute Entscheidungen zu treffen und wir müssen sie korrigieren, führen, hier lieg ein ständiges Konfliktpotential vor, wie wir wissen. Aber irgendwann einmal haben sie gelernt und beginnen zu verstehen, das nennt man den Reifeprozess. Sie begreifen die Welt der Erwachsenen mit ihren Spielregeln und wenn sie nicht ganz rebellisch geworden sind, bejaen sie diese Welt auch und wollen sie ganz für sich erobern. Dazu legen sie von selber ab was kindisch ist und wenden sich Dingen zu, die ihnen Unabhängigkeit und Selbstbestätigung versprechen. Aus Spiel wird Ernst: Das Legohäuschen war nur ein Vorgeschmack auf das wirkliche Haus, das sie nun bauen, das Monopoly Spiel für die echten Geschäfte im späteren Leben des Erwachsenen. Das Ziel der Kindheit liegt im mündig werden. Je kleiner Kinder sind, desto häufiger und lauter schreien sie, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es sich wünschen. Wenn sie größer werden, denken sie erst selber nach, wie sie ein Problem lösen können, bevor sie brav um Hilfe bitten, wenn es nötig ist. Sie legen das kindische Wesen ab.

Bild 2: Der dunkle Spiegel

(12) Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels wie im Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht; jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.

Das zweite Bild ist nun etwas schwerer zu verstehen, weil hier hat sich was geändert. Kinder werden immer noch auf die gleiche Weise erwachsen, wie eh und je, aber Spiegel sind heute nicht mehr dasselbe wie damals. Flachglas in dem Sinne wie heute, dass man daraus Spiegel machen konnte, gab es zur Zeit des Paulus noch nicht. Man polierte damals Metallplatten und die waren von der Qualität mehr oder weniger schlecht. Je nachdem wie gut die Platte poliert war, gab es ein deutlicheres oder weniger deutliches Bild, jedenfalls reichte nichts an das heran, was wir heute gewohnt sind, wenn wir in den Spiegel sehen.

Was bedeutet das für unsere Auslegung? Wir haben das in unserer Übersetzung eigentlich schon ganz gut beschrieben: der Blick in den Spiegel wird zu einem Rätsel. Ich schaue hinein, aber ich erkenne nicht, ob das auf meiner Nase da vorne, eine Warze wird oder nicht. Seit ein paar Wochen habe ich das Ding schon, aber ich habe noch keine Zeit gehabt, es wegmachen zu lassen. Jedenfalls sehe ich in den Spiegel und weiß, dass es da ist. Damals im Altertum wäre das nicht so sicher gewesen, solche Details waren einfach nicht erkennbar. Manche Spiegel waren so schlecht, dass es überhaupt nur Umrisse zu erkennen gab.

Nachdem wir nun die beiden Bilder haben, wird uns das helfen, das Vollkommene von dem Stückwerk und Unvollkommenen zu unterscheiden. Aber was ist das Vollkommene? Ist es das Zukünftige, das zur Zeit des Apostel Paulus noch nicht eingetreten ist? Paulus nimmt sich aber auch irgendwie selbst mit hinein, indem er sagt, dass er ein Kind war, aber nun ein Mann ist. Was ist das Vollkommene wirklich? Sehen wir uns das einmal an, bezogen auf die drei Auslegungsmöglichkeiten. Geht es hier um die Wiederkunft Christi? Oder geht es um die Gemeinde, oder gar um das geschriebene Wort Gottes?

1. Das Vollkommene ist das Wort Gottes

Weil hier Paulus in Vers 9 nicht mehr von den anderen Gnadengaben spricht, sondern nur mehr von der Erkenntnis und der Weissagung, gehen einige Ausleger davon aus, dass es auch nur mehr um diesen Bereich geht. Als das Vollkommene wäre dann etwas zu suchen, das dem entspricht, aber besser ist als das, was die Gemeinde damals hatte. Die Geschichte ist einfach: das Neue Testament war noch nicht geschrieben. Die Gemeinde war aber weitgehend von dem abhängig, was die Apostel lehrten, die aber nicht in jeder Gemeinde anwesend waren. Zu diesem Zweck hatte man nun die Propheten in den Gemeinden. Sie ergänzten das Apostelwort, indem sie Aussagen, die in Vergessenheit geraten waren erneut von Gott vermittelt bekamen. Sie weissagten in der Regel nicht anders als die Propheten des Alten Testamentes, indem sie darauf achteten, was der Geist Gottes ihnen an Träumen, Visionen und direkten Eingebungen gab, das reichten sie an die Gemeinde weiter. Und nun waren die Lehrer aufgerufen, das ganze in das System der Apostellehre einzufügen. Es musste passen, es durfte sich nichts widersprechen. Ich denke im Allgemeinen hatte die Gemeinde ein hohes Bewusstsein davon, dass die Möglichkeit bestand, dass auch ein falscher Geist Menschen etwas Falsches offenbaren konnte. Darauf weist auch die Existenz der Gabe der Geisterunterscheidung hin (12:10). Wir werden in 1. Kor. 14 sehen, dass auch ein komplexes System notwendig war, um die Gemeinde vor Irrtum zu schützen.

Die Aussagen der Propheten waren nun alles andere als klar und deutlich. Sie waren wahrlich Stückwerk. Denn die Propheten hatten eine Offenbarung, die sie unter Umständen selber nicht verstanden und nicht deuten konnten. Dazu bedurfte es der Hirten und Lehrer. Diese waren gefordert Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen. Denken wir nur an den Propheten Agabus, der Paulus davor warnte, nach Jerusalem zu ziehen, denn er hatte gesehen, dass dieser dort gefangen genommen werden würde. Paulus nahm das Wort des Agabus ernst, aber er ging trotzdem nach Jerusalem. Agabus sagte was geschehen würde, welche Konsequenzen daraus zu ziehen waren, war aber die Entscheidung des Apostels und sie fiel anders aus als Agabus das geglaubt hatte.

Das Prophetenwort als dunkler Spiegel scheint also sehr passend zu sein. Demnach müsste das Vollkommene etwas sein, das dies übertreffen könnte. Alle Schriften des Neuen Testamentes wurden zu dieser Zeit geschrieben. Als sie nun fertig waren, wurden sie untereinander ausgetauscht und es dauerte ein paar Jahrhunderte, bis man sie alle zweifelsfrei von den übrigen Schriften getrennt hatte, die auch noch, teilweise als Fälschungen, teilweise unsicherer Herkunft, im Umlauf waren. Diese echten Bücher wurden nun kanonisiert, das heißt, als einziges Buch, eben als das Neue Testamten, herausgegeben, welches das Alte Testament der Juden ergänzen sollte.

Der Gedanke der dann aufkam, dass es sich bei dem Neuen Testament um das Vollkommene handelt, von dem Paulus in 1. Kor. 13:10 spricht, hat also schon etwas Bestechendes an sich. Denn irgendwie scheint das geschriebene Wort Gottes dem gesprochenen überlegen zu sein. Es ist bereits beurteilt von kompetenten Leuten und als zweifelsfrei prophetischer Herkunft erkannt worden. Außerdem gibt es darin Aussagen, dass mit diesen Schriften das Offenbarungswerk Gottes abgeschlossen ist. Es wird sogar davor gewarnt etwas dazuzufügen. Das würde also alles ganz gut passen und wäre zudem noch mit der Geschichte konform, denn wir wissen ja, dass das Prophetentum nach den ersten beiden Jahrhunderten ziemlich von der Bildfläche verschwand.

Es gibt nur leider zwei Probleme bei dieser Auslegung. Zuerst einmal wollen das viele Gemeinden nicht akzeptieren, sie drehen den Spieß um und sagen, dass das Prophetentum gerade wegen dieser Auslegung zum Erliegen gekommen ist, wie auch andere Gnadengaben und dass dies ein historischer Fehler war. In der charismatischen Bewegung, die vereinfacht gesagt, irgendwo in den Erweckungsbewegungen des 19 Jahrhunderts ihren Ursprung hatte, wäre dieser Fehler korrigiert worden und seither gäbe es wieder Propheten. Dem könnte man zwar wieder entgegenhalten, dass ein Fehler einer Generation von Glaubensgeschwistern in der Frühzeit der Gemeinde, der über eineinhalb Jahrtausende nicht vom Geist Gottes korrigiert wurde, nur schwer zu akzeptieren ist, nicht für einen geschichtlich denkenden Menschen.

Aber der viel gravierendere Einwand gegen die These von dem neutestamentlichen Kanon als das Vollkommene in 1. Kor. 13 ist, dass diese Auslegung das Bild von dem unmündigen Kind nicht zu erklären vermag. Denn der Spiegel und der Unmündige sind zwei verschiedene Bilder und trotzdem müssten sie beide passen, denn Paulus hat hier ja in keiner Weise das Thema gewechselt. Was könnte Paulus mit dem Bild vom Kind das zum Mann wird gemeint haben, wenn das wirklich so sein sollten, dass mit dem Vollkommenen das Wort Gottes gemeint ist? Mir würde sich dieses Bild dann nicht wirklich erschließen.

Weiters sollten wir auch bedenken, dass das Wort Gottes, so vollkommen es auch in sich ist, uns trotzdem nicht zur vollkommenen Erkenntnis und Reife zu bringen vermag, zwar ist es viel deutlicher und kein Stückwerk mehr, wie das gesprochene Prophetenwort, aber unsere Erkenntnis bleibt dennoch Stückwerk, das müssen wir alle schmerzlich zur Kenntnis nehmen und der Prozess des Reifens bleibt auch seit der Existenz des Neuen Testamentes niemanden erspart.

2. Das Vollkommene ist die Wiederkunft Christi

Wenden wir uns also der zweiten Auslegung zu, die da sagt: das Vollkommene ist die Wiederkunft Christi. Wir lesen dazu einen Vers, der das zu bestätigen scheint: (1. Joh. 3:2) »Geliebte, wir sind jetzt Kinder Gottes, und noch ist nicht offenbar geworden, was wir sein werden; wir wissen aber, daß wir ihm gleichgestaltet sein werden, wenn er offenbar werden wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.«

Demnach wäre es tatsächlich so, dass wir das Vollkommene in dieser Zeit gar nicht zu erwarten hätten. Das brächte uns mit den beiden Bildern des Paulus nicht direkt in Konflikt. Wenn wir Jesus sehen ist alles klar, kein dunkler Spiegel mehr und da wir auch sein werden wie er selber ist, ist auch das kindische Wesen abgetan.

Aber ein anderes Problem tut sich auf, wenn wir das so sehen. Denn wenn die Erreichung des Vollkommenen nicht eine Angelegenheit des gegenwärtigen Zeitalters ist, sondern erst des zukünftigen, wenn Jesus wiederkommt, dann stellt sich die Frage, ob wir in der Liebe selbst denn dann in diesem Leben das Ziel je erreichen werden können? Bleibt uns dann nichts anderes als ein unfruchtbares Warten auf den Tag des Herrn, ohne jede Chance hier schon zur Reife, oder zur ausreichenden Erkenntnis zu gelangen, die unser Leben in der Liebe fruchtbar sein lässt? Nein, das kann es doch nicht wirklich sein, das widerspräche zu vielen anderen Bibelstellen, die hier aufzuzählen wir gar nicht erst anzufangen brauchen. Natürlich sind wir gefordert, hier und heute die Früchte des Geistes Gott darzubringen.

Zudem ist das Reifen vom Kinde zum Mann ja ein Prozess und die Wiederkunft Christi ist das nicht, wie wir aus Matth. 24:27 wissen: »Denn wie der Blitz vom Osten ausfährt und bis zum Westen scheint, so wird auch die Wiederkunft des Menschensohnes sein.« Diese Auslegung passt also auch nicht so gut. Sehen wir uns die dritte Möglichkeit an:

3. Das Vollkommene ist die Gemeinde in einem Zustand der Mündigkeit.

Paulus scheint davon zu sprechen, wenn er in Epheser 4:11-14 sagt: (11) Und Er hat etliche als Apostel gegeben, etliche als Propheten, etliche als Evangelisten, etliche als Hirten und Lehrer, (12) zur Zurüstung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Erbauung des Leibes des Christus, (13) bis wir alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zur vollkommenen Mannesreife, zum Maß der vollen Größe des Christus; (14) damit wir nicht mehr Unmündige seien, hin- und hergeworfen und umhergetrieben von jedem Wind der Lehre durch das betrügerische Spiel der Menschen, durch die Schlauheit, mit der sie zum Irrtum verführen, (15) sondern, wahrhaftig in der Liebe, heranwachsen in allen Stücken zu ihm hin, der das Haupt ist, der Christus.

Das scheint nun besser zu passen. Denn hier haben wir wieder beides, den Bezug zu den Gaben, die hier als Ämter ausgeführt sind und den Bezug zur Liebe, die uns als das Ziel der Reife in Christus vorgestellt wird. Wir haben den Gedanken des Zusammenfügens von Stückwerk zu einer Einheit und des Mündig-Werdens, um nicht mehr verführbar zu sein. Das Vollkommene ist also die Gemeinde, wenn sie Ihre Reife erreicht hat.

Jetzt muss ich Euch aber leider mitteilen, dass ich auch mit dieser Auslegung ein Problem habe. Ich weiß, ich bin schrecklich. Aber es tut mir leid, weder in der Geschichte, noch in Gegenwart vermag ich diese reife Gemeinde zu entdecken. Es wird doch hier gesagt, die mündige Gemeinde ist das Vollkommene. Aber wo in der Welt hat sich Gemeinde je als das Vollkommene geoffenbart? Ist sie Euch schon begegnet, die vollkommene Gemeinde? Sagt es mir, damit ich hingehe und mir das anschaue. Ich werde mich hüten ihr beizutreten, denn dann wird sie nicht mehr vollkommen sein. Aber ich fürchte, es wird mir ohnehin keiner auf dieser Erde den Weg zu ihr weisen können.

Also wieder nichts. Was ist das Vollkommene? – wir müssen es wissen, sonst können wir den Text nicht endgültig auslegen. Gibt es noch eine vierte Möglichkeit? Ich denke nicht dass es die gibt, aber es gibt schon noch etwas, nämlich die Möglichkeit die zweite und die dritte Auslegung zu kombinieren, und das wollen wir zum Abschluss noch versuchen.

2+3 Das Vollkommene ist die reife Gemeinde, wie sie erst bei der Wiederkunft Christi sichtbar werden wird.

Wenn wir nämlich sagen, dass es die vollkommene Gemeinde auf Erden nicht gibt, so müssen wir trotzdem festhalten, dass es aus Gottes Sicht diese Braut Christi ohne Flecken und Runzeln dennoch gibt (Eph. 5:27). Nur können wir nicht an einen Ort dieser Welt reisen und sie besuchen. Sie ist nicht lokalisierbar. Die Gemeinde ist, das wissen wir auch aus dem Epheserbrief, aber dennoch in ihrer Vollkommenheit unsichtbar präsent. (Eph. 3:10) damit jetzt den Fürstentümern und Gewalten in den himmlischen [Regionen] durch die Gemeinde die mannigfaltige Weisheit Gottes bekanntgemacht werde.

Es gibt also die reife Gemeinde und sie ist auch sichtbar, aber nicht uns, sondern vorläufig nur den unsichtbaren Mächten. Die Gemeinde wird aber in ihrer ganzen Vollkommenheit allen sichtbar werden, wenn Jesus wiederkommt. Damit aber habe ich trotzdem die Möglichkeit, mich in diese Reife und Vollkommenheit der Gemeinde eingliedern zu lassn, wenn ich nicht auf Gaben vertraue, sondern auf die Liebe. Das ist das Entscheidende. Die Liebe soll mich zur Vollkommenheit bringen, unabhängig davon, ob meine Ortsgemeinde, der ich angehöre, diese Vollkommenheit zu repräsentieren imstande ist oder nicht.

Wir wissen von den sieben Sendschreiben unseres Herrn an die sieben Gemeinden, dass es eigentlich nur eine gab, die er nicht Tadeln musste und die wohl dem nahe kam, was wir uns unter einen reifer Gemeinde vorstellen, die Gemeinde in Philadelphia. Doch diese Gemeinde gibt es heute nicht mehr und es gibt sie schon sehr lange nicht mehr. Irgendwann, noch vor dem Mittelalter hatte sie aufgehört zu existieren. Sie war reif geworden, aber dann doch zerfallen, irgendwann hatte Gott sie verworfen, wie er das zwei anderen Gemeinde damals angedroht hatte. Dies scheint das Schicksal von Ortsgemeinden zu sein, denn von den sieben sind letztendlich alle verschwunden.

Ist das ein Problem, dass es nicht gelingt, die vollkommene reife Gemeinde zu lokalisieren? Nein, ist es nicht, denn die vollkommene reife Gemeinde ist eine Sache der Ewigkeit. Hier kommt die Wiederkunft Christi ins Spiel. Wenn er kommt, wird sie dastehen, als Braut Christi, herrlich und makellos und nichts mehr wird an ihr auszusetzen sein.

Du bist gefordert

Aber um was geht es denn dann jetzt, in dieser Zeit? Die Antwort ist einfach. Es geht um Dich und um mich. Wir sind es, die gefordert sind, in der Erkenntnis zu wachsen, das Stückwerk zu überwinden und abzulegen was kindisch ist, um zu reifen. Wir tun das im Verband einer örtlichen Gemeinde, weil Gott das so will. Ob wir es als Kommunität aber je schaffen, diese Reife zum Ausdruck zu bringen ist sehr fraglich und hängt sehr von den Umständen ab, wie wir aus den Sendschreiben und den Briefen wissen. Wir haben keine Garantie dafür, eine Philadelphia-Gemeinde zu werden und wenn wir es geworden sind, kann es sein, dass wir es nicht bleiben. Das ist eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten und wir haben es nicht in der Hand sie zu lösen, das müssen wir demütig zur Kenntnis nehmen. Die Ortsgemeinde lebt ja davon, dass sie durch Menschen wächst, die in sie hineingetauft werden, die unvollkommen und unreif sind. Ja auch unverständig, weil sie das Wort nicht oder nicht genügend kennen. Kaum aber sind sie herangewachsen zu Reife und haben ihre Erkenntnis in der Gemeinschaft vervollständigt und gelernt, die in sie hineingelegte Liebe auszuleben, da kommen schon wieder Neue die das noch nicht gelernt haben, unmündige in Christus. Und sie prägen wie wir das Gesamtbild, niemand kann das steuern, als der Heilige Geist alleine.

Aber was jeder Einzelne in seiner Hand hat ist, ob er selbst zur persönlichen Reife gelangt und damit zum Ziel seines Lebens. Jeder bestimmt auch selber, ob er profitiert, vom gesamten Reifungsprozess der Gemeinde und der gesamten Erkenntnis des prophetischen Wortes, das ist etwas, was uns ein ganzes Leben lang beschäftigen kann. Die Ortsgemeinde mit ihren Gaben wird hier zum Werkzeug am Einzelnen, aber das Ziel ist die Gesamtgemeinde, wie sie sich am Ende der Zeit darstellen wird, wenn Christus wiederkommt. Sie ist eigentlich das Haus das wir bauen.

Um im Bild vom Anfang zu bleiben: Die Ortsgemeinde ist die Baustelle. Aber die Gesamtgemeinde (Universalgemeinde) ist das Ziel, das jetzt schon erreicht ist, so wir es wahrnehmen können. Es ist gut für uns, sie wahrzunehmen, denn sie ist die Quelle der Liebe, nur in ihr sind wir wirklich zu Hause und geborgen.

Darum ist der letzte Satz von erster Korinter 13 auch folgerichtig. (13) Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte aber von diesen ist die Liebe. Der Glaube ist es, in dem wir alles begonnen haben und ohne den wir es auch nicht vollenden können. Die Hoffnung aber ist es, die uns sagt, dass aus dem Kind ein Mann werden wird und dass der Spiegel nicht dunkel bleibt, aber über allem ist es die Liebe, die macht, dass wir das alles ertragen können und durchhalten. Denn die Liebe erträgt alles, die Liebe glaubt alles, die Liebe hofft alles, die Liebe duldet alles.

Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind, dass wir in der Liebe sind. (1. Joh. 2:5)

Amen!

10. Alles zur Erbauung (1. Kor. 14:1-20)