2. Der einsame Vater! (Jesus über den verlorenen Sohn)

Im Laufe unseres Lebens gibt es viele Abschnitte, in denen sich alles immer wieder verändert. Wir beginnen gewöhnlich in großer Abhängigkeit und sind ganz auf unsere Eltern ausgerichtet. Ohne sie könnten wir die ersten Jahre unseres Lebens gar nicht überleben. Aber selbst wenn wir schon laufen, sprechen, selbständig essen und viele andere Dinge mehr können, bedürfen wir immer noch unserer Eltern, weil unsere geistige und persönliche Reife noch nicht so weit ist, dass wir selbständig leben könnten. Wenn wir etwa einem Zehnjährigen sagen würden, er soll sich nun selber durch das Leben schlagen, dann könnte er das vielleicht sogar rein materiell schaffen, aber in seiner Persönlichkeitsentwicklung würde er mit Sicherheit Schaden nehmen. Erst mit ca. 16 Jahren beginnt allmählich der Loslösungsprozess von unseren Eltern und selbst dann braucht es gewöhnlich noch einige Jahre, bis dieser abgeschlossen ist.

Normalerweise streben wir also nach Unabhängigkeit ab einem gewissen Alter. Auffälligerweise ist der Mensch das Lebewesen, bei dem dieser Entwicklungsprozess am längsten dauert. Bei den anatomisch mit uns vergleichbaren Säugetieren geht das in der Regel viel schneller.

Der Loslösungsprozess, das Selbständig-Werden eines Jugendlichen ist also etwas ganz Selbstverständliches. Darüber brauchen wir nicht zu sprechen. Aber bedeutet diese Selbständigkeit auch absolute Autonomie? Wie viel Einfluss bleibt den Eltern noch, und haben die Kinder das Recht, sich sogar ganz von ihren Eltern abzuwenden?

Ich denke, wir würden als Eltern nicht wollen, dass sich unsere Kinder mit ihrem Auszug von zu Hause auch innerlich von uns abwenden. Noch viel weniger kämen wir im Normalfall auf den Gedanken, unseren Kindern zu sagen: »Lieber Sohn, liebe Tochter. Du bist jetzt alt genug, pack deine Sachen und verschwinde, ich will dich nicht mehr sehen.« Da unterscheidet uns denn doch noch etwas von vielen Tieren, die ihre Jungen oft im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Nest werfen.

Die Liebe des Menschen ist mehr als Affenliebe, sie ist nicht so angelegt, dass sie Beziehungen so einfach vergessen könnte. Dass sich Beziehungen verändern, das können wir akzeptieren, das ist der Lauf des Lebens und jeder hat schließlich sein eigenes Leben, sein Schicksal und das ist auch gut so. Aber wenn Beziehungen zerbrechen, dann schmerzt uns das und es geht uns gegen unsere Natur. So wollen wir als Eltern auch mit unseren Kindern in Kontakt bleiben, mit ihnen Gemeinschaft haben, Anteil an ihrem Leben gewinnen, die Enkelkinder auch noch kennen lernen und ein wenig verwöhnen, oder sich ganz einfach mit ihnen zusammen vergangener Zeiten erinnern.

Und doch passiert es gar nicht selten, dass Eltern-Kind-Beziehungen in einer Weise beendet werden, die nichts als einen Scherbenhaufen zurücklässt - mit viel Leid und Tränen.
Die Bibel berichtet uns auch von solch einer gescheiterten Beziehung, und wir wollen uns heute mit diesem Text beschäftigen: (Luk 15. 11-32)

11 Und er sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngere von ihnen sprach zum Vater: Gib mir den Teil des Vermögens, der mir zufällt, Vater! Und er teilte ihnen das Gut. 13 Und nicht lange danach packte der jüngere Sohn alles zusammen und reiste in ein fernes Land, und dort verschleuderte er sein Vermögen mit ausschweifendem Leben. 14 Nachdem er aber alles aufgebraucht hatte, kam eine gewaltige Hungersnot über jenes Land, und auch er fing an, Mangel zu leiden. 15 Da ging er hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seine Äcker, die Schweine zu hüten. 16 Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, welche die Schweine fraßen; und niemand gab sie ihm. 17 Er kam aber zu sich selbst und sprach: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluss, ich aber verderbe vor Hunger! 18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, 19 und ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen; mache mich zu einem deiner Tagelöhner! 20 Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und hatte Erbarmen; und er lief, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. 21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, und ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen! 22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt das beste Festgewand her und zieht es ihm an, und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an die Füße; 23 und bringt das gemästete Kalb her und schlachtet es; und lasst uns essen und fröhlich sein! 24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; und er war verloren und ist wiedergefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein. 25 Aber sein älterer Sohn war auf dem Feld; und als er heimkam und sich dem Haus näherte, hörte er Musik und Tanz. 26 Und er rief einen der Knechte herbei und erkundigte sich, was das sei. 27 Der sprach zu ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiedererhalten hat! 28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Sein Vater nun ging hinaus und redete ihm zu. 29 Er aber antwortete und sprach zum Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe nie dein Gebot übertreten; und mir hast du nie einen Bock gegeben, damit ich mit meinen Freunden fröhlich sein kann. 30 Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Gut mit Huren vergeudet hat, hast du für ihn das gemästete Kalb geschlachtet! 31 Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. 32 Du solltest aber fröhlich sein und dich freuen; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war verloren und ist wiedergefunden worden!

»Ein Mann hatte zwei Söhne, erzählte Jesus«, so beginnt also unser Text. Dass Jesus eine Geschichte erzählte war ja nichts Außergewöhnliches, die Gleichnisse unseres Herrn sind berühmt, jeder kennt sie, sie gehören zur Weltliteratur. Aber Jesus war auch sonst bekannt für eine bildhafte, lebendige Sprache, auch dann wenn er nicht in Gleichnissen sprach. Das kam daher, dass er wollte, dass ihn das einfache Volk verstand, daher nahm er seine Bilder aus dem Alltag dieses Volkes und machte ihnen damit die Wahrheiten über Gott verständlich.

Dieses Gleichnis des verlorenen Sohnes ist aus einer Reihe von drei Gleichnissen entnommen, die Jesus hintereinander erzählte. Es ist das dritte Gleichnis in dieser Reihe, in der Jeusus lehrte, wie bedeutend der Mensch diesem Gott im Himmel ist. Es ist ja eine der existentiellen Fragen, die uns bewegen, mehr noch als die Frage, ob es überhaupt einen Gott gibt! Die Frage, ob es einen Gott gibt, stellt sich den meisten Menschen ohnehin nicht, weil sie einfach davon ausgehen. Es gibt nämlich eine Intuition des Menschen über die Existenz Gottes, das heißt, dass er von Natur aus daran glaubt, dieser Glaube muss ihm durch Erziehung erst genommen werden. Viel mehr bewegt uns aber die Frage, wie dieser Gott zu uns steht und mit uns meinen wir nicht etwa die Menschheit allgemein, sondern uns ganz persönlich: Wie steht Gott zu dir und zu mir?

Die anderen beiden Gleichnisse, die diesem vorangehen, möchte ich nicht lesen, aber ich will sie kurz erzählen, damit wir den Text auch in seinem Zusammenhang erfassen. Zuerst spricht Jesus vom verlorenen Schaf: Ein Hirte hatte 100 Schafe. Davon geht ihm eines verloren. Daraufhin verlässt er die 99 anderen, um dieses eine zu suchen. Als er es gefunden hat, ruft er seine Freunde und feiert mit ihnen ein Fest.

Schon in diesem Gleichnis geht es Jesus darum, den Charakter Gottes zu zeigen. Gott ist nicht einer, der nur das Ganze sieht und dem der Einzelne nichts gilt. Das eine Schaf wird in dem Moment, wo es verloren geht, für den Hirten geradezu zum wichtigsten Schaf, vor allen anderen. So ist auch ein einzelner Mensch in seiner Verlorenheit für Gott zur Zeit das wichtigste Thema. Gott trauert um jeden verlorenen Menschen und ist auf der Suche nach ihm.

Das konnten die Schriftgelehrten im Volk Israel nicht verstehen. Wer ist denn so ein Sünder und ein Zöllner, dass sich einer mit ihm beschäftigt, der sich als von Gott gesandt bezeichnet? (Während er die einflussreichen Pharisäer oft links liegen ließ) Jesus sagt es eindeutig: Der Sünder ist der, den Gott sucht. Und wenn er Buße tut, dann hat Gott sein Ziel erreicht, er hat das Verlorene gefunden und die Freude im Himmel ist riesengroß.

Das zweite Gleichnis ist der verlorene Groschen. Eine Frau hat 10 Silbermünzen. Eine davon verliert sie und das verursacht bei der Frau einen regelrechten Anfall. Sie stellt buchstäblich das ganze Haus auf den Kopf, bis sie die eine wiedergefunden hat. Warum denn dieser Aufwand könnte man fragen, sie hat doch noch neun andere, die sehen alle eine wie die andere aus. Aber diese Frage ist natürlich unsinnig, denn es ist klar, dass jeder einzelne Groschen zählt. Das Ganze ist zwar mehr als die Teile seiner Summe, aber wenn ein Teil fehlt, dann gibt es auch das Ganze nicht mehr. Jeder Teil ist wichtig, und der Teil, der verloren ist, ist am wichtigsten, vor allen anderen Teilen.

So zählt auch bei Gott jeder Einzelne. Von den vielen Milliarden Menschen, die bereits auf der Erde leben, und von denen, die zuvor gelebt haben und die noch leben werden, bist Du vielleicht der eine Verlorene, den Gott noch sucht und auf den er noch wartet. Dafür ist Jesus gekommen, um Dir das zu sagen. Hast du dir das schon einmal durch den Kopf gehen lassen?

Aber nun kommen wir zum dritten Gleichnis. Und da legt Jesus noch einmal ordentlich eines drauf. Was dieses Gleichnis von den anderen unterscheidet, ist seine Dramatik. »Der verlorene Sohn« ist eigentlich schon eine richtige kleine Geschichte, mit einer dramatischen Handlung, die man von vielen Seiten beleuchten kann und – Gott sei Dank – mit einem Happy End. Wir lieben ja Geschichten mit Happy End.

So können wir die Geschichte in ihrer Mehrschichtigkeit zerlegen und können sie von der Seite des einen Sohnes und dann des anderen und schließlich vom Standpunkt des Vaters aus betrachten - es würde uns nicht langweilig werden - und wir würden viele Facetten entdecken, die tatsächlich mit unserem Leben etwas zu tun haben, und die sehr lehrreich sind. Aber ich denke, dass dieses Gleichnis, auch wenn es ein bisschen länger und komplexer ist als die anderen, eigentlich auch nur eine Hauptaussage hat, auf die uns Jesus vor allem aufmerksam machen wollte. Diese möchte ich versuchen herauszustreichen.

Allgemein ist dieser Text als das "Gleichnis vom verlorenen Sohn" bekannt. Ist es aber wirklich er, der die Hauptrolle spielt und auf den es ankommt? Wenn es Jesus nur um den einen Sohn ging, der den Vater verließ und dann reumütig wieder zurückkehrt, dann hätte sich Jesus die Erwähnung des zweiten Sohnes ersparen können. Die wäre von diesem Standpunkt aus gar nicht wichtig gewesen. In einer Übersetzung steht als Titel »die zwei verlorenen Söhne«. Das klingt einleuchtender. Dazu muss ich erklären, dass im Originaltext der Bibel die einzelnen Abschnitte überhaupt nicht betitelt sind. Das sind Hinzufügungen der Übersetzer, die das Auffinden der Texte erleichtern sollen.

Aber mich befriedigte auch dieser Titel nicht für meine Predigt. Denn eigentlich geht es ja gar nicht um die Söhne, sondern es geht um den Vater. Deshalb habe ich meine Predigt überschrieben mit dem Titel: »Der einsame Vater«. Denn obwohl noch immer ein Sohn bei ihm war, erkennen wir doch, dass der Vater die eigentlich tragische Figur ist in der Szene. Denn der eine Sohn ist fort und amüsiert sich, während der andere Tag und Nacht schuftet. Der Vater aber steht alleine da, Tag für Tag, und hält Ausschau nach seinem verlorenen Sohn. Das ist daran zu sehen, dass er den Heimkehrenden schon von weiten erkennt. Er scheint all die Jahre auf ihn gewartet zu haben, der einsame Vater.

Aber beleuchten wir die Szene ruhig einmal von der Seite des verlorenen Sohnes: betrachten wir diesen Mann einmal etwas genauer. Wer ist er? Er ist ein junger Mensch, wie jung wissen wir nicht, aber das ist nicht so wichtig. Jedenfalls ist es ein Mann, der sich von seinen Eltern lösen will. Wir haben es schon am Anfang erwähnt, dass darin noch nichts Ungewöhnliches liegt, noch nicht einmal darin, dass er ins Ausland ging: es gibt Väter, die ermutigen ihre Söhne dazu, im Ausland ihr Glück zu versuchen. Das Besondere an diesem Fall ist, wie der Sohn sich verabschiedete. Bevor er nämlich aufbrach, begehrte er seinen Anteil vom Familienvermögen. Das sieht doch sehr nach einer Abrechnung aus, da will einer einen Schlussstrich ziehen. So verabschiedet man sich normalerweise nicht von seinen Eltern, so kündigt man vielleicht in einer Firma, mit der man weiter nichts mehr zu tun haben will. Gib mir alles, was mir zusteht, Vater, denn ich will nicht mehr von Dir abhängig sein. Das ist nicht mehr mein Zuhause. Ich gehe meine eigenen Wege! Woher kam das? War das noch im Rahmen des natürlichen Ablösungsprozesses?

Vielleicht war das für die Menschen damals noch viel schlimmer als für uns heute, obwohl es auch für heutige Verhältnisse außergewöhnlich ist, dass ein Mensch vor der Zeit sein Erbe ausbezahlt haben will. Doch damals bedeutete dies mit Sicherheit eine eklatante Missachtung des Vaters, ja seine Beleidigung. In der Regel taten Söhne damals bis zum dreißigsten Lebensjahr, was der Vater sagte. Aber dieser Sohn nicht, er wollte fort, um sein eigenes Leben zu leben. Warum eigentlich? Konnte er das nicht auch in der gleichen Stadt, oder zumindest im gleichen Land tun wie sein Vater?

Diese Frage ist nicht allzu schwer zu beantworten. Er wollte sein Leben in vollen Zügen genießen, wie er es offensichtlich in der Gegenwart des Vaters nicht konnte. So egal war ihm der Vater nun auch wieder nicht, dass er in seiner Gegenwart sein Geld verprasste. Im Ausland war man nicht der Peinlichkeit ausgesetzt, von den Verwandten und Bekannten beobachtet zu werden, da konnte man viel eher tun und lassen was man wollte.

Die schwierigere Frage, die sich uns stellt, ist vielmehr: Warum hat der Vater dem Sohn überhaupt sein Erbe ausbezahlt? Das war damals sicherlich nicht gängige Praxis, und auch heute würden vermutlich die wenigsten Eltern ihren Kindern ein Erbe aushändigen, wenn sie wüssten, dass diese eine leichtsinnige Lebensart bevorzugen. Doch wir haben in unserem Gleichnis genau das ausgesagt und es stellt sich die Frage, was uns wohl Jesus damit über den Vater im Himmel lehren wollte?

Wenn wir noch einmal an die anderen beiden Gleichnisse denken, dann erkennen wir, dass es in diesem Gleichnis um eine persönliche Beziehung geht. Die verlorene Silbermünze war ein Ding, das war schön und man konnte es lieben, wie man eben ein Ding liebt. Man konnte es aber eigentlich nur besitzen. Zu einem Schaf, einem Tier, kann man schon eine gewisse Beziehung haben. Aber es ist ein Tier und das hat auch Grenzen. Ein Schaf interessiert sich in Wirklichkeit nur für das Fressen, und es wird gehalten wegen seiner Nützlichkeit.

Aber hier geht es um zwei Personen, die in der Lage sind, eine Beziehung in sehr unterschiedlicher Intensität zu pflegen. Von völliger Trennung bis zur innigen liebevollen Gemeinschaft ist alles möglich. So gilt das auch für die Beziehung zwischen Gott und einem Menschen. Eine der Hauptaussagen dieses Gleichnisses ist, dass Gott unser Vater ist, das sagt uns Jesus hier ganz klar. Vater ist Gott im Sinne der Schöpfung. Er hat uns geschaffen, um mit uns Gemeinschaft zu haben. Wenn er wollte, könnte er uns dazu zwingen. Doch im Unterschied zu vielen menschlichen Vätern verhält sich Gott anders. Das ist es, was das Gleichnis an dieser Stelle aussagt, wenn der Vater dem Sohn das Vermögen aushändigt. »Nimm es, ich zwinge dich nicht, bei mir zu bleiben, deine Beziehung zu mir soll freiwillig sein.« Eine Liebesbeziehung kann ja auch nur auf gegenseitiger absoluter Freiwilligkeit aufbauen. Deshalb ließ der Vater den Sohn gehen. Er gab ihm seinen Anteil, weil er nicht wollte, dass sich der Sohn auch nur einen Tag lang unfreiwillig in seiner Gegenwart aufhielt.

Kein Mensch auf Erden ist gezwungen, mit Gott zu leben, ihn zu suchen und eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Die meisten Menschen halten das auch so und leben gottlos. Sie werden deshalb von Gott nicht benachteiligt. Gott zwingt den Gottlosen nicht etwa durch Krankheit oder unentrinnbare Schicksalsschläge dazu, ihm zu folgen. »Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte!« heißt es in Matth. 5,45.

Du hast Dein Erbe ausbezahlt bekommen. Deine Gaben, deine Fähigkeiten, dein soziales Umfeld, dein Geld und alles, was dein Leben reich und angenehm macht: betrachte es als das Erbe, das Gott dir zugeteilt hat. Du kannst damit tun was du willst! Und es ist erstaunlich, was der Mensch alles ohne Gott zu tun imstande ist. Die Kultur des Menschen gibt davon ein gewaltiges Zeugnis. Wir stehen nicht nur staunend vor den Werken Gottes, sondern gelegentlich auch vor denen des Menschen. Der Mensch vermag viel auch ohne Gott zu tun. Zu seinem Erbe gehört auch ein wacher Geist und klarer Verstand. Was immer Du willst, Du kannst es erreichen, wenn Du es willst. Aber Du sollst wissen, wenn das Erbe verprasst ist, dann bleibt Dir nichts mehr übrig. Alles was Du je genossen hast, oder was Du geschaffen hast und worauf sich Dein Selbstbewusstsein gründete, es wird vergehen, und nichts wird bleiben. Wie Dir das vermeintliche Glück zwischen den Fingern zerrinnt, wirst Du ganz zwangsläufig erleben. Und das ist die Tragödie des Menschen ohne Gott, des Sohnes ohne den Vater: dass seine Kapazität nicht ausreicht, das Vermögen ist einmal verbraucht, die Kräfte versiegen und der Glanz vergeht.

Und dann? Dann ist Sense, denn die Bewunderer des verlorenen Sohnes haben sich verzogen und anderen neuen Stars zugewendet. Die Freunde waren nur Freunderln (auf gut österreichisch) und verlaufen sich wie Ratten in ihre Löcher. Die Party ist zu Ende und der verlorene Sohn steht alleine da. Das heißt, eigentlich ist sie zunächst nicht zu Ende, aber er kann nicht mehr bezahlen und so landet er auf der Straße, hungert und friert und weiß nicht, wo er seine müden Glieder ausstrecken soll, jeder noch so dreckige Platz wird ihm verwehrt. Wo sind sie hin, die alten Zeiten, als alles noch so easy war? Als er noch im coolen Outfit durchs Leben glitt? Wir brauchen das jetzt nicht rein materiell zu sehen, es ist ja ein Gleichnis. Man kann materiell noch alles haben, was man braucht und doch seelisch auf den Hund gekommen sein.

Aber es kommt noch schlimmer: eine Hungersnot bricht aus. Dies sind Zeiten der Geschichte, die uns wieder lehren, dass wir aufeinander angewiesen sind. Wir mögen in guten Zeiten dem Individualismus frönen. Aber wenn die Ressourcen wieder knapper werden… Wehe dem, der dann keine Freunde und Verwandten hat, die ihm aushelfen. Der verlorene Sohn hatte niemanden mehr, denn er war ja im Ausland. Auf familiäre Bindungen konnte er nicht zurückgreifen. Selbst wenn er zurückkehrte, hatte er das Recht, Sohn zu sein verwirkt. Was ihm zustand, hatte er verspielt. Nun hatte er die Folgen zu tragen.

Doch da kommt ihm eine rettende Idee. Sicher, sein Vater war ihm nichts mehr schuldig, aber darf er nicht doch wenigstens auf seine Barmherzigkeit rechnen, dass er ihn als Hilfsarbeiter in seinen Dienst nähme? Dann bräuchte er wenigstens nicht zu hungern. Das will er versuchen, geht hin und es stellt sich dann heraus, dass der Vater während der ganzen Zeit schon darauf gewartet hat, dass er eines Tages zurückkehren werde.

Der einsame Vater wartet, dass der Sohn nach Hause kommt. Der Sohn weiß das nicht, aber er kommt und erkennt nun wohl zum ersten Mal, wie sehr der Vater ihn liebt. Denn ihm wird nicht die Stelle als Hilfsarbeiter angeboten, sondern er wird wieder als Sohn eingesetzt mit all den Ehren, die er eigentlich überhaupt nicht verdient hat. Vielleicht kann man sogar sagen, der Sohn merkt erst jetzt, dass er überhaupt einen Vater hat. Bis dahin war Vater für ihn nur ein Wort, eine unbedeutende Randfigur in seinem Leben. Aber nun erkennt er, dass er diesem Vater eigentlich alles zu verdanken hat.

Damit will Jesus uns Menschen zeigen, wie Gott wirklich zu unserer Sünde steht. Ganz gleich, wie weit wir sind in der Verschwendung unseres Lebens, wir dürfen zu Gott kommen und werden von ihm angenommen wie der verlorene Sohn vom Vater, ganz gleich, was unsere Vergangenheit ist. Freilich stehen wir vor ihm wie die Bettler. Aber wir werden dennoch angenommen.

Das ist der Vater im Himmel, wie Jesus ihn uns in diesem Gleichnis zeigt. Er hält Ausschau nach Dir. Wann kommst Du? Aber vielleicht denkst Du, ich bin ja schon da, doch was habe ich davon? Ich glaube an Gott, bete zu ihm, gehe Sonntag für Sonntag in den Gottesdienst. Aber bist Du wirklich beim Vater, oder nur in seinem Haus? Das bringt uns zum zweiten Sohn. Der ist zwar da, aber für den Vater ist er trotzdem auch verloren. Was unterscheidet denn den einen Sohn vom anderen? Der eine ist in das Ausland gegangen und hat dort sein Erbe verprasst, hat alles auf den Kopf gestellt. Ein schwerer Sünder, der unverzeihliche Fehler begangen hat und dafür sollte er eigentlich bezahlen müssen. Der andere aber ist geblieben und hat alles behalten. Was ihm der Vater anvertraut hat, hat er bewahrt. Er hat gearbeitet, ja geschuftet und in seinem Verhalten konnte nichts gefunden werden, was dem Vater Schande bereitet hätte.

Doch das Verhalten dieses zweiten Sohnes bei der Rückkehr seines Bruders bringt ans Licht, dass auch er nicht mit dem Vater eins war: Er hört von weitem schon, da wird ein Fest gefeiert. Er ist erstaunt, denn das ist nicht alltäglich; etwas Besonderes muss sich ereignet haben! Ein Angestellter des Vaters gibt ihm die gewünschte Auskunft: der Bruder ist zurückgekehrt! Doch das erfreut ihn gar nicht, sondern macht ihn nur wütend. Als er dann noch erfährt, dass der beste Ochse im Stall deswegen geschlachtet wurde, ist der Ofen ganz aus.

Armer einsamer Vater! Dies zeigt, wie sehr auch der zweite Sohn während der vielen Jahre zwar körperlich anwesend, aber doch dem Herzen des Vaters so fern war, sonst hätte er nicht in der Stunde, da der Vater sich so sehr freut, so erzürnt sein können. Wir können doch auch jahrelang ein religiöses, einwandfreies und tadelloses Leben führen, aber ist es das, was Gott von uns will? Wie nahe sind wir seinem Herzen? Wie nahe bist Du heute dem Herzen Gottes während Du hier im Gottesdienst sitzt? Du bist da und willst deine sonntägliche Pflicht tun. Aber empfindest Du auch, was der Vater empfindet? Bist Du auch bei ihm, wenn er Ausschau hält nach denen, die noch draußen sind in der Finsternis? Oder hast du Besseres zu tun? Irgendjemand muss sich ja um dies und das im Hause Gottes kümmern und du schuftest wie ein guter Sohn eben schuftet.

Wenn das so ist, dann kannst Du Dich auch nicht wirklich freuen, wenn Menschen in der Gemeinde auftauchen, die ein bisschen anders sind als Du. Zu Jesus waren eine ganze Menge Zöllner und Sünder gekommen, und das störte die religiösen Führer im Lande. Dass sie Jesus kritisierten, dass er eigentlich mit seiner Art den ganzen Abschaum anzog, war der Anlass für Jesus, diese drei Gleichnisse zu erzählen.

Der zweite Sohn hätte ja auch gerne ein Fest gefeiert. Aber ihm ging es dabei nicht um den Vater. Wie sagte er doch: »Du hast mir kein Tier gegeben, damit ich mit meinen Freunden feiere.« Das Anliegen mit seinem Vater zu feiern hatte er anscheinend nicht, der sollte nur bezahlen. Die Freunde des zweiten Sohnes mögen sehr korrekte Menschen gewesen sein, wie dieser selbst; keine Saufkumpanen, wie sie der andere hatte. Dennoch standen sie zwischen dem Vater und dem Sohn.

Auch die Pharisäer und Schriftgelehrten hätten gerne mit Jesus gefeiert, damit der Glanz seiner Popularität ein wenig auf sie abfärben würde. Aber da sie kein Herz für die Menschen hatten, sondern nur für ihre eigenen selbstsüchtigen Interessen, konnten sie auch nicht nachempfinden, wie Jesus fühlte, als all die Menschen zu ihm kamen. Sie standen draußen und freuten sich nicht mit ihm.

Der einsame Vater, das ist eigentlich das Thema dieses Gleichnisses. Warum kein Übersetzer darauf gekommen ist und diesen Titel verwendet hat, weiß ich nicht. Vielleicht scheuen wir uns ein wenig davor, Gott solche Attribute zuzusprechen, die uns so menschlich und gar nicht göttlich vorkommen. Aber Tatsache ist, dass Jesus hier von einem einsamen Vater spricht und damit Gott meint.

Wie steht es um uns? Sind wir noch auf der Flucht vor dem Vater, um unseren egoistischen Traum von Freiheit und Autonomie zu verwirklichen? Oder haben wir schon gemerkt, dass alles nur eine Illusion war und wir unser Erbe verspielt haben? Vielleicht waren wir uns aber bis jetzt auch unserer Sache ganz sicher, wir haben Gott unseren Vater genannt, das fromme Vokabular gut einstudiert und aufgepasst, dass wir nur angenehm auffallen. Aber ist unser Herz auch wirklich all diese Jahre bei Gott gewesen, eines Sinnes mit dem Vater?

Wie sieht Deine Gemeinschaft mit dem Vater aus?
Welcher von den beiden Söhnen bist Du? Und wann kehrst Du um?

Jesus hat uns den Vater gezeigt. Er hat uns einen einzigartigen Blick in das Herz Gottes machen lassen. Wie sollten wir noch weiterleben als ob wir Waisen oder Verstoßene wären? Komm zu ihm! Er will mit dir ein Fest feiern. Er will dir die Lumpen oder auch die biedere Arbeitskluft abnehmen und dir alles geben, was du brauchst, um wie ein Sohn zu leben und nicht wie ein Schweinehirt oder einer seiner Knechte.

 

Amen!