4. Das Gewissen (1. Mo. 3:10-11)

Wer die Bibel in ihrer ganzen Tiefe verstehen will, der muss sie Heilsgeschichtlich betrachten. Gottes Handeln mit den Menschen von der Schöpfung bis zum künftigen jüngsten Gericht, muss als progressiver Prozess verstanden werden, wie wir schon bisher in dieser Predigtserie gesehen haben. Gesetz und Gnade sind die großen Paradigmen, die historisch im Kreuz Christi ihren Wechsel erfahren. Welche Bedeutung aber hat das Gewissen des Menschen im Wandel der Zeit?

 

Wir haben in meinen letzten Predigten gesehen, was die Bedeutung und Stellung des Gesetzes, oder auch von Regeln, Vereinbarungen, Ordnungen und so weiter ist. Wir haben gesehen, dass das wesentliche die Liebe ist, das einzige Gebot das uns Christus gegeben hat. Das Gesetz ist eine wertneutrale Nebensache. Wir gebrauchen es und ordnen uns auch unter, zum Beispiel unter die staatlichen Gesetze, weil wir immer noch in einer Welt der Sünde leben und nicht die Illusion haben, als könnten wir in diesem Leben schon die Freiheit in Christus ganz und gar verwirklichen, die in der Ewigkeit auf uns wartet und zu der uns auch Gott geschaffen hat.

Das Paradies ist noch nicht da und es wird erst kommen, wenn Jesus wiederkommt in sichtbarer Gestalt. Bis dahin gebrauchen wir Gesetze wie Werkzeuge. Wenn aber ein Gesetz, ganz egal woher es stammt, dem Prinzip der Liebe Christi widerspricht, dann müssen wir uns ihm verweigern, denn das Gesetz kann nicht gegen die Liebe sein, es muss in der Liebe eingeschlossen sein, wenn es der Gerechtigkeit dienen soll und das ist ja die Aufgabe eines Gesetzes schlechthin: die Schaffung und Erhaltung von Gerechtigkeit.

So lehrt das die Bibel, wie ich versucht habe zu beweisen. Eigentlich wollte ich es schon dabei bewenden lassen. Doch dann ist mir klar geworden, dass hier noch etwas ganz wichtiges fehlt. Es gibt noch etwas worüber wir sprechen müssen, das Thema ist erschöpfend behandelt, wenn wir auch noch über das Gewissen sprechen. Dieses Thema, finden wir in der Bibel immer wieder und deshalb können wir es nicht übergehen.

Erkenntnis von Gut und Böse

Dazu möchte ich noch einmal ganz zurückgehen, zur Adam und Eva im Paradies, wie wir das schon das letzte mal schon getan haben. Wir lesen in 1. Mose 3: 4-11: (4) Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, (5) sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und Böse ist. (6) Und das Weib sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß. (7) Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. (8) Und sie hörten Gott den Herrn, wie er im Garten ging, als es kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des Herrn unter den Bäumen im Garten. (9) Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? (10) Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. (11) Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du sollst nicht davon essen?

Nun war es also doch geschehen, das wovor Gott Adam und Eva gewarnt hatte. Ohne jetzt die ganze Geschichte des Sündenfalls analysieren zu wollen, das würde viel Zeit in Anspruch nehmen, wollen wir hier nur feststellen, dass es sich um ein Versprechen Satans handelte, das zum Teil erfüllt wurde, zum anderen Teil nicht. Es ist ja immer die Halbwahrheit am verführerischsten. Eine dicke Lüge ist leicht zu durchschauen und wird nicht geglaubt. Aber eine Sache, an der etwas daran ist, die geht leicht hinein und hat Chancen angenommen zu werden, auch wenn sie letztendlich doch eine Lüge ist: »Gott hatte gesagt, ihr werdet des Todes sterben, an dem Tag, da ihr davon essen werdet.« Satan sagte: »nein, nein, ihr werdet nicht des Todes sterben, sondern an dem Tag, an dem ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan und ihr werdet sein wie Gott.«

Was geschah nun wirklich? Der Mensch aß und seine Augen wurden tatsächlich aufgetan – soweit hatte Satan recht gehabt. Doch dann: was sah er mit seinen geöffneten Augen? Er sah nicht den zweiten Teil der falschen Prophezeiung erfüllt, dass er wie Gott geworden wäre, sondern er sah nun, dass er nackt war, schutzlos den Mächten ausgeliefert. Er war also ein Betrogener! Er begann sich zu bekleiden mit großen Blättern von Bäumen und versteckte sich, wenn er Gott hörte. Ein wahnwitziges Unterfangen, denn was sollte ihm in dieser Welt Schutz bieten, wenn nicht Gott selbst? Doch er hatte Angst vor Gott. Erkennen wir, was da zerbrochen war? Der Mensch, der in seiner Unschuld vor Gott stand, wie ein Kind vor seinem Vater und ihm bedingungslos vertraute, der nicht Gut und Böse unterscheiden konnte, weil er das Böse noch nicht gesehen hatte, verkriecht sich nun und hat Angst. Seine Idylle ist zusammengebrochen, obwohl die Welt um ihn herum, das Paradies, immer noch die Gleiche ist. Es ist ihm nicht mehr heimelig darin, sondern unheimlich. Da sind Mächte und Wesen, gute und böse und nichts ist mehr so wie es war.

Es ist, als wäre in Adam und Eva ein Schalter umgelegt worden und plötzlich funktionierten sie anders als vorher. Aber was war anders geworden? Nun wir müssen feststellen, dass der Mensch tatsächlich als geistliches Wesen gestorben war, oder zumindest in seiner Fähigkeit sich zu einem geistlichen Wesen zu entwickeln. Wie wir ja das letzte mal gesehen haben, hatte Gott ihn geschaffen nach seinem Bild, als seinen Schatten auf der Erde und nun, da er gefallen war, war er in dieser Rolle gestorben. Er war nicht länger der Schatten Gottes, vor dem er sich nun verbarg. Sein Geist, die Antenne, die ihn mit Gott verband und an ihn band, war gebrochen, tot. Doch an die Stelle des Geistes trat etwas anderes, was er vorher nicht hatte: das Gewissen! Und das ist es, worum es uns heute geht.

Das Gewissen ist das moralische Bewusstsein des Menschen. Wie hätte er erkennen können, dass sich die Welt in Gut und Böse aufteilt? Es war das Gewissen, das es ihm sagte. Wie hätte er sich seiner eigenen Unvollkommenheit und Nacktheit bewusst werden können, in der er sich schämte, eine Erfahrung, die völlig neu war für ihn? Das Gewissen war in ihm wach geworden und es trat an die Stelle des Geistes, der gestorben war. Der Mensch hatte das Gebot übertreten, das einzige, das ihm Gott zugemutet hatte, in einer Welt der grenzenlosen Freiheiten und unumschränkten Möglichkeiten. Er tat es und damit war der Bruch zwischen Gott und seinem Geschöpf vollzogen. Er hätte nun in den Abgrund der Verdammnis fallen können, die Welt hätte von Gott vernichtet werden können, das Wort Tod hätte auch die völlige Vernichtung des Menschen bedeuten können, aber so war es nicht. Er starb geistlich, aber im Fleisch blieb er bestehen, allerdings ausgestattet mit einem Gewissen, einem moralischen Bewusstsein, das es ihm gestatten würde, auch weiterhin zu erkennen, was gut ist, nämlich Gott und was böse ist, nämlich Satan, mit dem er sich eben verbündet hatte wodurch er selbst böse wurde.

Die Funktion des Gewissens

In diesem Zustand musste er das Paradies verlassen und hinab in die Niederungen einer rein materiellen Existenz steigen, mit allen ihren kausalen Zwangsläufigkeiten, versklavt und geknechtet von Sünde, Leid und Tod. Dennoch war das Gewissen, das ihm Gott als Quasi Ersatz für den Geist gegeben hatte wie ein Fangnetz, das ihn davor bewahren sollte, endgültig in den Abgrund des Bösen zu fallen. Denn der Mensch selbst war ja, obwohl nun in der Lage Gut und Böse zu unterscheiden, nicht fähig, sich selbst zu erretten. Aber er war immer noch fähig, sein Elend, die Gefahr zu erkennen und Gott um die Hilfe zu bitten, die ihm im Paradies ja auch schon versprochen worden war (1. Mo. 3:15). Das Gewissen sollte ihm dabei eine Hilfe sein.

Schon bei Kain und Abel können wir nun beobachten, wie das Gewissen funktionierte. Wir lesen 1. Mose 4:3-8
Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. (4) Auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, (5) aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. (6) Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? (7) Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie verlangen; du aber herrsche über sie. (8) Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: lass uns aufs Feld gehen!

Auch hier können wir aus Zeitgründen wieder keine genaue Exegese des Textes durchführen. Nur so viel: das Wort »fromm« muss in diesem Zusammenhang verstanden werden als »gut Sein«, in dem Sinne, dass man das tut, was von einem erwartet wird, das, was Anerkennung findet. Das hat Kain nicht getan. Er wusste, warum Gott sein Opfer nicht gnädig ansah. Aber er wollte es nicht so machen, wie es Abel tat, sondern er wollte seinen eigenen Weg gehen. Da veränderte sich sein Wesen. Sein Blick wurde finster und senkte sich zu Boden. Er konnte seinem Bruder nicht mehr gerade in die Augen sehen – warum? Es war die Reaktion seines Gewissens. Gott sprach zu ihm und ermahnte ihn, sein Gewissen ernst zu nehmen, damit nicht ein Unglück geschieht und er vollends unter die Macht der auf ihn lauernden Sünde gerät. Doch wie traurig, Kain schlug die Ermahnung in den Wind und machte sich über den her, den er zur Ursache seines Problems erklärt hatte, den unschuldigen Abel und erschlug ihn. Was für eine Tragödie.

Was lernen wir daraus, im Bezug auf das Gewissen. Kain hatte ein Gewissen und er lag in diesem Fangnetz, das ihn noch davor bewahrte, gleich seinem Zorn Luft zu machen und das Verbrechen zu begehen. Dieses Gewissen war wie die Stimme Gottes, doch er missachtete es. Es war, als hätte er in dieses Netz mit dem scharfen Messer seines Eigenwillens ein Loch geschnitten und war daraufhin in diesen furchtbaren Abgrund gestürzt, der ihn zum Brudermörder machte. Hatte das Gewissen versagt? Nein, ganz gewiss nicht, aber es hatte sich gezeigt, dass dieses Gewissen nur ein Hilfsmittel ist, um die Macht der Sünde einzudämmen, ihrem Würgegriff zu entfliehen. Doch es ist keine Rettung in diesem Fangnetz, der Mensch hängt nach wie vor und sein ganzes Leben lang zwischen Himmel und Hölle. Dennoch hätte es ihm eine Hilfe sein können und Gott hat dem Menschen auch aus diesem Grunde das Gewissen gegeben, damit es ihn zuverlässig warne, vor dem, was ihn weiter von Gott weg, in das endgültige Verderben treibt und es für ihn keine Rettung mehr gibt.

Wir lesen nun in der Bibel von keinen weiteren Maßnahmen, die Gott getroffen hat, bis zu dem Tag, an dem Noah in die Arche stieg. Es gab zu diesem Zeitpunkt kein Gesetz. Das Gewissen, die Stimme Gottes ihn ihm, das moralische Bewusstsein, war das einzige Instrument, das dem Menschen zur seiner geistlichen Orientierung zur Verfügung stand. Doch wie bei Kain, war es bald bei den meisten Menschen so, dass sie sich ihres Gewissens entledigten, um besser sündigen zu können. Denn psychologisch ist es ja ganz klar, wenn du weißt, was gut ist, aber das nicht tust, weil du es nicht willst, musst du dich entweder vom Gewissen strafen lassen, es beugt dein Haupt und du fällst in eine Depression, oder aber du schaltest es ganz einfach aus. Du gehst Kraft deines eigenen Willens dazu über, die Blockade zu lösen und erklärst für dich gut, was dir vorher böse war, damit du es doch tun kannst. Damit tötest Du dein Gewissen, oder machst es zumindest stumpf, dass es dich in deiner Bosheit nicht mehr stört.

Das Zeitalter des Gewissens

Und so lesen wir bei der Geschichte von Noah in 1. Mose 6:3: »Da sprach der Herr: Mein Geist soll nicht für immer mit dem Menschen rechten, denn er ist ja Fleisch …« Auch wenn hier nicht vom Gewissen die Rede ist – dieser Begriff kommt erst im neuen Testament vor, im AT ist er integriert in den mehrdeutigen Begriff Herz – so können wir doch erkennen, dass es sich um die gleiche Sache handelt. Der Mensch steht noch vor Gott, auch außerhalb des Paradieses, und er wird von diesem gerufen, gemahnt, oder wie Luther es ausdrückte, gestraft. Doch dieser behauptet seine Autonomie und so geht ein großes Zeitalter zu Ende und Gott beginnt mit Noah etwas ganz Neues. Dieses Zeitalter vor Noah können wir daher auch als das Zeitalter des Gewissens bezeichnen, weil es nichts anderes gab, wonach sich der Mensch richten konnte, als sein Herz und der Stimme Gottes in ihm, die ihn zur Unterscheidung von Gut und Böse anhielt: dem Gewissen!

Vieles aus diese Zeit ist im Dunkeln, die Bibel berichtet uns nicht viel davon und wir müssen uns auch der Spekulation enthalten, aber eines ist doch klar: auch wenn der Mensch nicht mehr im Paradies war, die Stimme Gottes konnte er noch hören und er konnte ihr sogar folgen, wie das Beispiel des Henoch beweist, von dem geschrieben steht:
1. Mose 5:22-24. »Und Henoch wandelte mit Gott … und weil er mit Gott wandelte, nahm ihn Gott hinweg und er ward nicht mehr gesehen.« Doch bei den meisten Menschen war es anders, sie folgten dem Gewissen nur zum Teil oder gar nicht. Und so kam es zur Sintflut. Nach Noah begann eine neue Zeit. Eine Zeit in der Gott Bündnisse mit den Menschen einging. Zuerst der Bund mit Noah selbst, danach mit Abraham, Isaak und Jakob, der schließlich in den Gesetzesbund mündete, den Gott mit Moses und dem Volk schloss.

Jeder einzelne dieser Bündnisse wäre es nun wert genauer betrachtet zu werden. Jeder hatte seinen ganz besonderen Sinn. Doch einer dominierte in der Zeit von Moses bis Jesus Christus, das war der Gesetzesbund vom Sinai. Hier war nun ein Volk nicht mehr angewiesen auf sein Gewissen alleine. Auch nicht auf Gesetze die von Menschenhand erlassen wurden, sondern er hatte ein gutes und vollkommenes Gesetz von Gott erhalten, an dem er sich orientieren konnte. Doch wie sich sehr schnell und eindeutig herausstellen sollte, versagte das Gesetz ebenso wie das Gewissen, wenn es darum ging, den Menschen für Gott zu retten. Der Mensch blieb verloren und gefangen in seiner Sünde und Ungerechtigkeit und deshalb unfähig in der Gegenwart Gottes zu leben.

Nun wissen wir aber, dass Gott einen anderen Weg bereitet hat. (Gal. 4:4) »Da aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan, auf dass er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste, dass wir die Kindschaft empfingen.« In der ganzen Zeit vorher ging es darum, zu sehen und zu erkennen, wie tiefgreifend die Sünde des Menschen war, sodass kein Mittel ausreichte, den Menschen aus seiner Sündhaftigkeit zu erlösen. Weder das Gewissen, als innerer Seismograph des Herzens, noch ein Gesetz, als äußere Anleitung zu einem gerechten Leben war dazu in der Lage war, Es bedurfte eines weitaus größeren und dramatischen Aktes, um ihn zu retten. Gott musste selbst eingreifen und dem Menschen eine grundsätzlich andere, neue Möglichkeit schaffen, die ihn wieder zum Schatten Gottes, zu seinem Ebenbild machen würde, in der Freiheit, zu der er bestimmt war.

Das Evangelium von Jesus Christus brachte eine neue Zeit, die wir als die Zeit der Gnade, die Zeit der Gemeinde oder des Heiligen Geistes – aber auch im Gegensatz zur Knechtschaft des Gesetzes, als Zeit der Kindschaft bezeichnen können. Welche Rolle spielt nun das Gewissen in dieser Zeit. Tatsächlich finden wir im Neuen Testament dazu viele Aussagen, von denen wir uns noch die wichtigsten ansehen wollen. (Illustration: Zeittafel)

Das Gewissen im Neuen Testament

In 2. Kor. 1:12 sagt Paulus folgendes: »Denn dies ist unser Ruhm: das Zeugnis unseres Gewissens, das wir in Einfalt und göttlicher Lauterkeit, nicht in fleischlicher Weisheit, sondern in der Gnade Gottes unser Leben in der Welt geführt haben, und das vor allem bei euch.« Das ist sehr bemerkenswert, dass Paulus hier dem Gewissen immer noch eine sehr zentrale Bedeutung beimisst. Es ist ihm nämlich immer noch der eigene, in seinem Inneren befindliche Maßstab dafür, ob er sein Leben richtig oder falsch lebt. Auch dem Timotheus gibt er in seinem 1. Brief an ihn den Rat, neben dem Glauben auch ein gutes Gewissen zu haben, denn, so sagt er weiter in Kap1:19: »…das haben einige von sich gestoßen und am Glauben Schiffbruch erlitten.« So haben wir also einen deutlichen Hinweis darauf, dass das Gewissen im neutestamentlichen Glauben noch eine bedeutende Rolle spielt. Aber welche?

Das ist das Problem, dass dies nicht so leicht zu erkennen ist. Denn wir haben ja nun eine ziemlich komplizierte Konstellation die sich im Laufe der menschlichen Daseinsgeschichte entwickelt hat. Das Gewissen, das Gesetz, der Glaube, die Liebe als das Gebot Christi. Es scheint nicht einfach, dem Gewissen seinen richtigen Stellenwert zu geben. Das war auch damals so, als die ersten Gemeinen entstanden. Die Gemeinden waren ja gemischt. Juden und Heiden die Christen geworden waren, lebten nun zusammen in einer Gemeinde und wir wissen was das Problem war. Eigentlich war es nicht das Gewissen selbst, sondern das vom mosaischen Gesetz geprägte Gewissen der Juden, die nicht so einfach ihren Lebensstil ändern wollten oder konnten, nachdem sie ein Leben lang gelehrt worden war, wie man sich kleidet, wäscht und was man isst. Das alles war den Heiden nicht so wichtig und es war auch von der Lehre Christi nicht vorgesehen, dass derartige äußerliche Dinge eine Bedeutung erlangen sollten.

So ermahnt Paulus die Christen im Kolosserbrief 2:16: »So lasst euch nun von niemandem ein schlechtes Gewissen machen wegen Speise und Trank oder wegen eines bestimmten Feiertages, Neumondes oder Sabbats.« Damit meinte er natürlich die Heidenchristen, denn die Judenchristen hatten wegen diesem allen ja ein Gewissen, es gehörte zu ihrer Kultur und ethnischen Mentalität. Doch was Paulus nicht für richtig erachtete, war, dass die aus den Heiden Christen gewordenen, nun das alles übernehmen sollten. Die Juden konnten nach ihrem Gewissen leben, aber sie sollten nicht ihr Gewissen zum Maßstab für andere machen, indem sie damit andere beurteilten oder beeinflussten.

Das war die Auseinandersetzung und sie zeigt uns, dass bei aller Wertschätzung des Gewissens durch Paulus, er dieses doch als ein sehr persönliches, individuelles Instrument versteht, mit dem man sehr gut sein eigenes Leben meistern kann, das aber nicht dazu geeignet ist, andere zu beurteilen. Warum ist das so? Es wurde schon öfter der Vergleich bemüht, vom Gewissen als einem Computer, der programmierbar ist. Damals gab es ja keine Computer oder ähnliches, daher können wir nicht sagen, ob es Paulus auch so gesehen hätte. Doch so falsch kann dieser Vergleich nicht sein. Denn auf jeden Fall sehen wir, dass das Gewissen sehr stark geprägt sein kann, von dem was einen Menschen eben durch seine Erziehung und das Leben in einem gewissen sozialen Kontext prägt. Das Gewissen kann also offensichtlich ganz verschieden programmiert sein. Was dem einen gut erscheint, ist dem anderen böse und wer sollte nun objektiv entscheiden, was wirklich richtig ist?

Hier kommt uns nun der Hebräerbrief zu Hilfe. In diesem Buch werden die Fäden sehr schön zusammengeführt. Das Gesetz, das gebrochen worden war, davon haben wir ja noch gar nicht gesprochen, aber ihr wisst das ja, hatte verschiedene Opfer vorgesehen, das die Gewissen der Sünder reinigen sollte, damit sie wieder unbeschwert leben konnten. Erinnern wir uns noch einmal an Kain, der mit gesenktem Haupt einher ging. Das richtige Opfer nun würde die Last von seinen Schultern nehmen und das Gewissen nicht nur beruhigen, sondern ihm versichern, dass Gott vergeben hat. (Kain verzichtete allerdings mutwillig auf dieses Vorrecht.)

Aber – stellt der Schreiber des Hebräerbriefes fest: »Es werden da Gaben und Opfer dargebracht, die nicht im Gewissen vollkommen machen können den, der den Gottesdienst ausrichtet. (9:9)” Warum? Na weil natürlich keine Tieropfer eine sündige Tat wirklich sühnen kann. Das weiß der Mensch. Aber was dann folgt ist: (10) Dies sind nur äußerliche Satzungen über Speise und Trank und verschiedene Waschungen, die bis zu der Zeit einer besseren Ordnung auferlegt sind. (11) Christus aber ist gekommen als ein Hoherpriester der zukünftigen Güter durch die größere und vollkommenere Stiftshütte, die nicht mit Händen gemacht ist, das ist: die nicht von dieser Schöpfung ist. (12) Er ist auch nicht durch das Blut von Böcken oder Kälbern, sondern durch sein eigenes Blut ein für alle Mal in das Heiligtum eingegangen und hat eine ewige Erlösung erworben. (13) Denn wenn schon das Blut von Böcken und Stieren und die Asche von der Kuh durch Besprengung die Unreinen heiligt, sodass sie äußerlich rein sind, (14) um wie viel mehr wird dann das Blut Christi, der sich selbst als Opfer ohne Fehl durch den ewigen Geist Gott dargebracht hat, unser Gewissen reinigen von den toten Werken, zu dienen dem lebendigen Gott!« So ist nun das Gewissen vor allem durch das was Jesus für uns getan hat, zu reinigen. Wir können ohne reines Gewissen kein Glaubensleben führen, das ist unmöglich! Aber wir kommen zu diesem guten Gewissen nur, weil wir uns im Blut des Lammes Christi reinigen können. Nur sein Opfer ist groß genug, dass es als Sühne gelten könnte, für alle unsere Sünden und wir uns somit der Vergebung gewiss sein können.

Doch wie erhalten wir uns ein reines Gewissen? das ist ja nun die Frage, die uns am meisten bewegt. Es ist eigentlich ganz einfach: denn wenn es schon heißt, dass wir unser Gewissen reinigen von den toten Werken (V14) – also nicht nur von den Sünden, denen wir uns bewusst geworden sind, sondern auch von all dem, was wir vorher meinten Gott anbieten zu können – also den falschen Opfern unserer Werkegerechtigkeit, dann werden wir in eine solche nicht mehr so ohne weiteres zurückfallen können. Wenn wir auf nichts mehr stolz sind, niemanden mehr verachten und keine Ansprüche mehr stellen, weil wir wissen, dass wir nur begnadigte Sünder sind, dann werden wir nicht nur die Qual des bösen Gewissens verlieren, sondern auch seine falsche Prägung. Paulus war auch ein Jude, aber es war ihm ein leichtes, die Ansprüche seines ethnischen Bewusstsein hintenan zu stellen und sich mit den Heiden an einen Tisch zu setzen. Wir wissen, dass es dem einfacheren Petrus viel schwerer fiel, aber letztendlich gab dieser Paulus darin recht.

Was Paulus aber auch nicht tat, war, mit seiner in Christus gewonnenen Freiheit zu provozieren. Darauf kam es ihm nicht an, den Juden, bei denen es nicht so schnell ging, Probleme zu bereiten. Im Gegenteil, er war sogar bereit, in bestimmten Fällen um des Friedens und des gemeinsamen Vorankommens willen Kompromisse zu machen. Wir wissen ja, das Paulus dagegen war, Heidenchristen zu beschneiden, wie es der jüdischen Ritus vorschrieb. Dennoch lesen wir in der Apostelgeschichte, dass Paulus den Timotheus beschneiden ließ, als sie nach Lystra und Derbe kamen, um den dortigen Juden keinen Anstoß zu geben, Timotheus war nämlich ein Halbjude. Aus taktischen Gründen im Rahmen seiner Mission war Paulus zu diesem Kompromiss bereit. An anderer Stelle aber war er kompromisslos, dann nämlich, wenn er merkte, dass dadurch die Freiheit, die wir in Christus haben verloren gehen würde.

Hier möchte ich den Gedanken des Paulus anschließen den er auch in 2. Kor. 1:24 aussprach: »… nicht dass wir Herren wären über euren Glauben, sondern wir sind Gehilfen eurer Freude; denn ihr steht im Glauben.« Wer hätte mehr Anlass gehabt, sich zum Herren des Glaubens aufzuschwingen, als dieser Paulus, der wie kein anderer Einsicht hatte in Gottes Plan. Aber er tat es nicht. Bei allen Ermahnungen ging es ihm nicht darum, die Gewissen der Gläubigen zu belasten, sondern sie zu entlasten. In all den Auseinandersetzungen die wir in den Briefen finden – und wir kennen ja immer nur die Seite des Paulus und müssen daraus die Ereignisse rekonstruieren, so ist das halt bei Briefen – bei all dem, geht es Paulus nicht um gesetzesartige Anweisungen, sondern darum, das die Gläubigen in der Liebe aus reinem Herzen leben, im ungeheuchelten Glauben und mit einem reinen Gewissen, das ist, wie er in 1. Tim.1:5 sagt, der Hauptzweck aller Unterweisung und Lehre (siehe 5. Predigt zum Thema).

Die Liebe aus reinem Herzen aber ist die Liebe Christi, von dem alleine unser Leben geprägt sein soll. Unser Gewissen kann uns dabei helfen, sein Wesen an uns zu verwirklichen, aber dazu müssen wir los sein vom bösen Gewissen, sowohl von der Verunreinigung durch Sünde, als auch von falscher Prägung. So schließe ich mit den Worten aus Hebr. 10:22 »lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in vollkommenem Glauben, besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser.«
Amen