2. Was kommt anstelle des Gesetzes?

Christen stehen nicht unter dem Gesetz, Martin Luther sprach schon von der Freiheit des Christenmenschen. Aber was ist diese Freiheit, ein moralisches Vakuum? Es liegt auf der Hand, dass das nicht sein kann. Wenn nun aber das Gesetz beseitigt wurde, was tritt an seine Stelle, wonach können wir unser Leben ausrichten? Um diese Fragen geht es in der zweiten Predigt der Serie über das Gesetz

 

Ich habe das letzte mal über Galater 3 gepredigt und wir haben festgestellt, dass Paulus in der Auseinandersetzung mit der Gemeinde betont, dass wir nicht mehr unter dem Gesetz sind. Er hat das bewiesen durch den Hinweis, dass wir dem Geiste nach Kinder Abrahams sind, dem Vater aller Gläubigen und diesem Abraham war kein Gesetz gegeben worden, sondern er war allein auf seinen Glauben hin von Gott gerecht gesprochen worden, weil er der Verheißung glaubte, die ihm gegeben worden war. Wenn ihr den Galaterbrief weiter gelesen habt, dann werdet ihr festgestellt haben, dass Paulus in Kap. 4 dies noch weiter ausführt mit weiteren Argumenten aus dem Alten Testament. Es ging also das letzte mal um die Kernfrage: »Wozu das Gesetz?« Warum ist es gekommen und warum sind wir nicht mehr daran gebunden? In Kap. 5 nun geht er dazu über, zu betonen, was wir an Stelle des Gesetzes haben. Nämlich zunächst einmal die Freiheit in Christus. Und er führt aus, wie diese Freiheit zu verstehen ist. Das Gesetz wurde nämlich nicht abgetan, um uns in einen Zustand der Gesetzlosigkeit zu versetzen, in dem Sinne, dass nun eh jeder machen könnte was er wollte. Es wäre nicht richtig, über das Ende das Gesetzes zu sprechen, ohne zu erwähnen, was an seine Stelle zu treten hat.

1. Die Freiheit in Christus

»Weg vom Gesetz« war jedenfalls die Parole des Paulus an die Galater, und gemeint war das mosaische Gesetz. Lesen wir Gal.5:1:
»Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So stehet nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auferlegen.«
Ein Gesetz ist ja bindend für den der es zu halten hat. Es kennt keine Freiheit. Wer es übertritt, muss mit Strafe rechnen. Deshalb nennt er es das Joch der Knechtschaft, der Sklaverei. Wir sind aber Kinder Gottes, keine Knechte, deshalb ist für uns das Gesetz nicht gültig. Der Sohn hat die Freiheit, aber was bedeutet das? Kann er deshalb tun und lassen was er will? Ich denke, dass das eine falsch verstandene Freiheit ist. Niemand ist in dem Sinne frei, dass er tun und lassen kann was er will, das ist ein moderner Mythos, der in die Anarchie führt. Diese Art von Freiheit kennt die Schrift gar nicht, denn die Autonomie des Menschen führt nicht zu seinem Heil, sondern in seine Einsamkeit und damit in sein Verderben. Wer die Gemeinschaft sucht, muss ihren Anforderungen gerecht werden, aber es ist ein Unterschied, ob man dies freiwillig tut und dabei auch genügend Spielraum für die eigene Selbstentfaltung findet, oder ob man dieser Gemeinschaft nur per Gesetz angehört, das man selbst nicht verändern kann, dem man nur Folge zu leisten hat, unter allen Umständen und ohne jede Ausnahme. Ein Sklave hat einen Herrn, was dieser sagt ist für ihn Gesetz, da ist nichts verhandelbar. Aber ein Sohn kann mit seinem Vater jederzeit über alles sprechen und muss sich nicht vor ihm fürchten. Dennoch kann auch der Sohn fehlen, indem er die Interessen des Vaters nicht beachtet. Er kann die Freiheit die er hat missbrauchen.

Das ist nun die Auseinandersetzung, oder das Spannungsfeld, in dem die Gemeinde lebt, seit sie zu Pfingsten in Jerusalem gegründet wurde. Auf der einen Seite ist sie nicht mehr dem Gesetz verpflichtet, weil Jesus es erfüllt hat, auf der anderen Seite aber muss sie lernen die Freiheit in Christus im Sinne Gottes des Vaters anzuwenden. Wenn wir die Geschichte des Christentums unter diesem Aspekt betrachten, dann werden wir feststellen, dass es immer wieder ein Scheitern gegeben hat, in die eine Richtung und in die andere.

Christen sind immer in Gefahr, ihre Freiheit zu missbrauchen. Dann schleicht sich Lauheit ein, man kümmert sich mehr um die eigenen Angelegenheiten als um das Reich Gottes. Man möchte das Leben auch von seiner materiellen Seite genießen, dazu hat Gott es ja auch gegeben, aber plötzlich geht es mehr und mehr darum, Spaß zu haben und die eigene Lust am Leben zu erwecken. Man wird egoistisch, sodass bald auch wieder das passiert, was nicht mehr passieren dürfte, nämlich dass sich Sünde in unser Leben einnistet. Sünde, der wir doch entflohen sind, als wir zu Christus kamen. Paulus drückt das so aus in Vers 13-14: »Ihr aber liebe Brüder seid zur Freiheit berufen. Allein sehet zu, dass ihr durch die Freiheit nicht dem Fleisch Raum gebt; sondern durch die Liebe diene einer dem andern. Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem (3. Mose 19:18): »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.!«

2. Der Geist der Liebe

Das ist die Perspektive, die Paulus den Galatern vorgibt. An der Freiheit festzuhalten, nicht zum Gesetz zurückzukehren, aber an der Stelle des Gesetzes die Liebe zu verankern, denn die Liebe beinhaltet alles, was auch das Gesetz fordert.

Im Folgenden führt Paulus nun aus, was das heißt, wie sich diese Auseinandersetzung in einem jeden von uns abspielt. Wir haben die Freiheit gewonnen und nun besteht die Gefahr, dass wir uns nur mehr um uns selbst kümmern, um unser Fleisch, wie er das so ausdrückt. Wir würden heute sagen: unser Selbst, wir streben nach Selbstverwirklichung, Selbsterfahrung und Selbstbewußtsein. Doch wir leben im Geist und dieser Geist, den wir bei unserer Wiedergeburt bekommen haben, ist ein Geist der Liebe. Liebe aber meint nicht das Selbst, sondern den Anderen. Liebe kann ohne den anderen nicht sein! Den anderen Lieben wie sich selbst heißt, keinen Unterschied zwischen ihm und mir zu machen. An die Korinther schrieb Paulus, als er erklären wollte, warum er sich so um sie bemüht: (2. Kor. 5:14) »die Liebe Christi drängt uns«. Und an die Römer schreibt er (Römer 8:14): »Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder«. Paulus ist da in seinen Schriften absolut konsequent. Im Geist leben und in der Liebe leben, das ist für ihn ein und dasselbe. Deshalb spricht er auch im Galaterbrief, nachdem er von der Liebe, als das was an die Stelle des Gesetzes getreten ist spricht, als von einem Leben im Geiste. Dieser lässt uns nicht faul werden und er lässt nicht zu, dass wir die Freiheit missbrauchen. Wenn wir den Geist Gottes haben, dann müssen wir auch in diesem Geist leben, denn dieser drängt uns und die Liebe Christi in uns will sich an denen beweisen, die wir um Christi willen lieben.

Manche meinen, das müsste ohne Kampf und Krampf gehen. Schön wäre es ja, aber leider ist es nicht so, da macht uns Paulus keine Illusionen. So stellt er das Leben in der Freiheit durchaus als einen Kampf dar wenn er weiter schreibt (Gal. 5:15-26):
(15) Wenn ihr euch aber untereinander beißt und fresst, so sehet zu, dass ihr nicht einer vom anderen aufgefressen werdet. (16) Ich sage aber: Lebt im Geist, so werdet ihr die Begierden des Fleisches nicht vollbringen. (17) Denn das Fleisch begehrt gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch; die sind gegeneinander, so dass ihr nicht tut was ihr wollt. (18) Regiert euch aber der Geist, so seid ihr nicht unter dem Gesetz. (19) Offenkundig sind aber die Werke des Fleisches, als das sind: Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Hader, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Spaltungen, (21) Neid, Saufen, Fressen und dergleichen. Davon habe ich euch vorausgesagt und sage noch einmal voraus: die solches tun werden das Reich Gottes nicht erben. (22) Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, (23) Keuschheit; gegen all dies ist das Gesetz nicht. (24) Die aber Christus angehören, die haben ihr Fleisch gekreuzigt, samt den Leidenschaften und Begierden. 25 Wenn wir im Geist leben, so lasst und auch im Geist wandeln. (26) Lasst und nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden.

Das ist ein starkes Wort. Es scheint hineingeworfen zu sein, in eine Auseinandersetzung zwischen Geschwistern. Das ist nichts Ungewöhnliches, da ist Paulus ganz Realist. Er kennt die Galater und er weiß, dass sie sich gelegentlich beißen und fressen, dass es also Streit in der Gemeinde gibt. Doch er geht nicht auf diesen Streit ein. Wir wissen gar nicht, was es außer der Auseinandersetzung um das mosaische Gesetz noch für Streitigkeiten gegeben hat. Paulus mischt sich da nicht ein, sondern verweist im Folgenden nur darauf, dass Streit und Zank nicht zu den Früchten des Geistes gehören. Die Liebe von der Paulus gesprochen hat war offensichtlich nicht mehr vorhanden und Paulus urteilt nicht danach, wer Schuld ist und wer nicht, sondern er deutet auf die Ursache des Problems und die liegt eigentlich bei jedem Einzelnen.

Es ist diese Auseinandersetzung, die in jedem einzelnen Gläubigen stattfindet zwischen der Möglichkeit fleischlich und selbstsüchtig oder geistlich und hingegeben zu leben. Der Kampf liegt nicht in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen, wie wir vielleicht glauben möchten, daran dass wir alle so unterschiedlich sind, oder verschiedene Meinungen haben. Nein, der Kampf wird von einem jeden mit sich selbst entschieden, noch bevor er dem Anderen begegnet. Was gewinnt in dir die Oberhand, das Fleisch oder der Geist. Nun da Du Christ bist, ist dir beides möglich, im Geist zu leben und auch im Fleisch. Beides geht aber nicht zugleich. Das streitet gegeneinander, da gibt es keine Koexistenz, da ist von Kreuzigung die rede, etwas muss sterben. Hier geschieht auch, was ihr nicht wollt, sagt Paulus. Was heißt das? Das heißt, dass wir immer irgendetwas in uns verleugnen, entweder den Geist oder das Fleisch. Das Fleisch, unsere natürlichen Neigungen und Antriebe zu verleugnen, fällt uns selbstverständlich schwerer, denn danach haben wir lange Zeit gelebt, darauf haben wir unser Selbstverständnis aufgebaut, darauf, was wir sind und haben. Aber nun haben wir auch den Geist Gottes mit einer anderen Gesinnung und wenn wir nicht darin leben, dann können wir nicht mehr glücklich werden. Wie wird also dieser Kampf ausgehen bei dir und bei mir?

3. Das Kreuz Christi

Gewinne diesen Kampf in Dir und es wird dir kein Problem mehr sein, mit den Geschwistern auszukommen, das ist die Botschaft die Paulus hier für die Galater hat. Wenn du im Fleisch lebst, was wunderst du dich über Streit und Zank, die Dein Leben bestimmen. Warum bist du überrascht, dass dein Herz voll Neid und Missgunst ist und Du Menschen nicht mehr ins Gesicht sehen kannst? Das ist ja alles die Frucht des Fleisches. Wenn du aber im Geist lebst, dann ändert sich alles. Dann ist die Liebe kein Problem mehr. Dann kostet es dich nichts mehr, zu jedermann freundlich zu sein, dann werden die Menschen deine Güte preisen und Deine Treue; Friede wird von dir ausgehen. Der eigentliche Kampf ist nicht der gegen deinen Nächsten, sondern der gegen dich selbst. Gewinnst du gegen dich selbst, kannst Du dein Fleisch kreuzigen, dann wird es kein Problem mehr sein, den Nächsten zu lieben wie dich selbst und wir brauchen über ein Gesetz gar nicht mehr zu sprechen.

Doch es ist eigenartig, dass genau in solchen Zeiten, wenn Christen sich dem Fleisch ergeben haben und deshalb aneinander gerieten die Gefahr am Größten war, sich wieder dem Gesetz zuzuwenden. Und meistens ging es nicht wirklich um theologische Auseinandersetzungen, sondern um persönliche zwischenmenschliche Beziehungen und Befindlichkeiten – die Andersartigkeit des Nächsten wurde plötzlich zum Problem und die Lösung wird in der Abgrenzung gesucht. Der Wunsch einen Ausweg zu finden, der einen selbst so wenig wie möglich kostet, ist ja psychologisch verständlich. Und so werden Regeln aufgestellt, wie man miteinander leben könnte. Ob es dann dabei um die Festlegung eines gewissen Frömmigkeitsstiles geht, oder Verhaltensregeln die von allen eingefordert werden oder um 1000 andere Spielarten. Man möchte jedenfalls Gesetze haben, Zeiten, Regeln und feste Strukturen, die zeigen, was Sache ist. Man meint dabei die Gemeinschaft zu fördern, in Wirklichkeit aber möchte man sich abgrenzen, aus Angst das eigene Ich könnte von der Gemeinschaft verschlungen werden. Man fürchtet um sein Leben, seine Identität, sein Selbst und will es erhalten, indem man Grenzen festlegt. Das ist das Prinzip der Gesetzlichkeit. Aber was sagte Jesus? »Wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren, wer es verliert um meinetwillen, der wird es finden.« (Matth. 16:25) Das ist der Unterschied, das eine ist das fleischliche Prinzip des Gesetzes, das andere das geistliche Prinzip des Kreuzes.

Doch allzuoft, wie mittlerweile an zahlreichen Beispielen in der Kirchengeschichte zu beweisen ist, haben sich Christen für das Gesetz und nicht für den Geist entschieden. Denn mit der Wiedereinführung eines – ich sage absichtlich nicht des, sondern eines Gesetzes, denn es geht nicht um das eine Gesetz des Moses, sondern um jedwedes Gesetz, wie ich gleich noch beweisen werde – mit der Einführung eines Gesetzes also wird die Gefahr riesengroß, Christus zu verlieren. Sein Geist, seine Liebe, ja er selbst, spielen vielleicht noch eine symbolische Rolle und man verlässt sich fälschlicherweise auf diese, aber das geistliche Leben und die Früchte des Geistes sind nicht mehr vorhanden. Man hat sich arrangiert und die Berührungspunkte auf ein Minimum beschränkt. Man ist Mitglied, an den Sonntagen und zu den Feiertagen kommt man seiner Pflicht nach, aber sonst hält man sich bedeckt, geht jeder seinen eigenen Weg, damit niemand sieht, welch ungenießbaren Früchte des Fleisches im eigenen Leben heranreifen. Man ist zur Gemeinschaft nur mehr begrenzt fähig und daraus ergeben sich für die Gemeinde schädliche Konsequenzen.

Wie traurig, dass wir weite Strecken der christlichen Geschichte so charakterisieren müssen. Paulus warnte eindringlich davor, dies zuzulassen. Unmissverständlich gibt er bekannt, dass wer sich von den Werken des Fleisches bestimmen lässt, das Reich Gottes nicht erben kann! Denn das Gesetz, die Tradition, das Dogma oder die religiöse Verpflichtung, kann das unheilvolle Fleisch des alten Menschen nicht überwinden. Nur der Geist kann das, den uns Gott gegeben hat, wie wir schon in der ersten Predigt gesehen haben. Darum sollten wir uns auf ihn konzentrieren und nicht auf Äußerlichkeiten. »Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln« ruft Paulus den Galatern zu. In der modernen Bibelübersetzung heißt das: »durch den Heiligen Geist haben wir neues Leben, und das soll jetzt auch bei uns sichtbar werden.« Kann man es noch deutlicher sagen, wo das Problem liegt? Ganz sicher nicht am Fehlen irgendeines Gesetzes oder einer Regel, die nicht von allen befolgt wird. Wenn wir das meinen, dann betrügen wir uns selbst und wir tun das wahrscheinlich nur, um nicht die Konsequenzen des eigenen Kampfes gegen das eigene Fleisch, oder die eigene Natur, ausfechten zu müssen.

Aber was ist dann mit der Lehre der Apostel?

Nun haben wir gesehen, dass wir das Gesetz nicht brauchen, sondern dass es im Gegenteil hinderlich ist, denn wenn wir nun an Stelle von Vorschriften und Satzungen die Liebe Christi regieren lassen wollen, dann kann das Gesetz dabei eher hinderlich als förderlich sein. Doch die Frage die sich nun stellt ist die nach den Anweisungen der Apostel. Wie sind diese zu verstehen? Sind sie denn nicht auch wieder ein Gesetz? Das Gesetz des Moses ist für Christen nicht mehr gültig das ist inzwischen deutlich geworden, aber müsste man nicht aus dem Inhalt des neuen Testamentes ein neues Gesetz formulieren, bei der Fülle an praktischen Regelungen und Einführungen, welche die Apostel der ersten Gemeinde mitgegeben haben? Wäre es nicht an der Zeit, dahin zurück zu kehren, wo die ersten Christen des ersten Jahrhunderts gestanden haben, damit wir auch wieder die gleichen Segnungen erfahren?

Das Thema wäre nicht vollständig behandelt, wenn wir uns diese Frage nicht stellen würden. Aber ich möchte dazu einen weiteren Text aus den Briefen des Apostel Paulus hinzunehmen und zwar aus dem ersten Brief an Timotheus, den Mitarbeiter des Paulus. Ihm schrieb er in Kap 1:1-11 folgendes:
(1) Paulus, ein Apostel Christi Jesu nach dem Befehl Gottes, unseres Heilands, und Christus Jesus, der unsere Hoffnung ist, (2) an Timotheus, meinen rechten Sohn im Glauben: Gnade, Barmherzigkeit, Friede von Gott, dem Vater, und unserem Herrn Christus Jesus! (3) Du weißt, wie ich dich ermahnt habe in Ephesus zu bleiben, als ich nach Mazedonien zog, und einigen zu gebieten, dass sie nicht anders lehren, (4) auch nicht achthaben auf Fabeln und Geschlechtsregister, die kein Ende haben und eher Fragen aufbringen, als dass sie dem Ratschluss Gottes im Glauben dienen. (5) Die Hauptsumme aller Unterweisung aber ist die Liebe aus reinem Herzen und aus gutem Gewissen und aus ungefärbten Glauben. (6) Davon sind einige abgeirrt und haben sich hingewandt zu unnützem Geschwätz, (7) wollen die Schrift meistern und verstehen selber nicht, was sie sagen oder was sie so fest behaupten. (8) Wir wissen aber, dass das Gesetz gut ist, wenn es jemand recht gebraucht, (9) weil er weiß, dass dem Gerechten kein Gesetz gegeben ist, sondern dem Ungehorsamen, den Gottlosen und Sündern, den Unheiligen und Ungeistlichen, den Vatermördern und Muttermördern, den Totschlägern, (10) den Unzüchtigen, den Knabenschändern, den Menschenhändlern, den Lügnern, den Meineidigen und wenn noch etwas anderes der heilsamen Lehre zuwider ist, (11) nach dem Evangelium von der Herrlichkeit Gottes, das mir anvertraut ist.

Das ist nun eine Tatsache, dass Paulus nicht nur selbst, sondern auch über seine Mitarbeiter, von denen Timotheus nur einer war, den Gemeinden, wie er geschrieben hat: gebot, nicht anders zu lehren, als er gelehrt hat! Ist damit nicht alles was Paulus gesagt hat, zugleich Gesetz für alle Christen zu allen Zeiten? Ich denke, dass wir hier vorsichtig sein müssen und Paulus ist es selbst auch. Denn er greift auch hier das Thema Gesetz wieder auf und fügt zu den deutlichen Worten in seinen Schriften noch etwas Wichtiges hinzu, was wir so bisher noch nicht gelesen haben. Zuerst aber wollen wir uns noch ein wenig mit der Situation beschäftigen, in der sich Timotheus befunden hat, als ihn dieser Brief des Apostel erreichte.

Der befand sich nämlich zu dieser Zeit gerade in Ephesus wo Paulus sich über zwei Jahre aufgehalten hatte. Erst als es zu dem in Apg. 19 berichteten Aufstand der Gold- und Silberschmiede der Stadt kam, die um ihr Einkommen fürchteten, da wegen der vielen Bekehrungen der Umsatz der Götzenbilder stark zurückgegangen war, musste Paulus die Stadt verlassen und zog weiter nach Griechenland. Damals dürfte er bereits Timotheus zurück gelassen haben, mit der Anweisung, die Lehre des Paulus zu verteidigen. Der Angriff gewisser Irrlehrer in Ephesus war nämlich weitaus gefährlicher, als die Feindschaft der Profiteure des berühmten Diana oder Arthemis-Kultes in Ephesus. Was waren das für Lehren? Wir dürfen annehmen, dass es sich um die gleichen handelte, denen Paulus auch durch den Galaterbrief entgegen trat, den er von Ephesus aus geschrieben haben dürfte. Sie gingen also von den jüdischen Gesetzeslehrern aus. Nur dass diese in Ephesus noch einem Schritt weiter gegangen waren. Es ist ja von Fabeln und Geschlechtsregistern die Rede. Der Begriff Fabeln ist im griechischen mit Mythen angeschrieben. Was ein Mythos ist wissen wir. Besonders die Griechen waren sehr anfällig dafür und hatten ja selbst zahlreiche Mythen in ihrer Geschichte, die heute noch bekannt sind. Aber die Juden waren auch nicht unbedarft in dieser Hinsicht. Auch sie hatten eine Reihe von Mythen, die sie sich erzählten, die nicht aus der Heiligen Schrift stammten, aber aus ihrer Literatur und aus den Erzählungen. Die Vorliebe der Griechen für Geschichten und das Interesse der Juden, die Heidenchristen für das Judentum zu begeistern, um sie auf diese Weise nicht nur zu Christus, sondern auch zu Moses zu bekehren, ist nun der Nährboden, auf dem diese Lehrer ihre Gedanken und Meinungen ausbreiten konnten. Die Geschlechtsregister könnten ein Hinweis darauf sein, das sich einige von ihnen dabei ihrer Abstammung bedienten. Die Juden waren ja stolz auf ihre Abstammung und verbrachten viel Zeit mit Ahnenforschung. Wenn also jemand eine besonders edle Herkunft nachweisen konnte, dann war er auch versucht, darauf seine Autorität zu gründen. Das alles sind Dinge, die dem Evangelium komplett entgegenstanden und es verfälschten. Das musste aufhören und deshalb sollte Timotheus an das erinnern was Paulus gelehrt hatte und ermahnen, darin zu bleiben.

Nun finden wir aber im gleichen Timotheusbrief eine ganze Reihe von Anordnungen die Paulus trifft und die Timotheus durchsetzen sollte. Etwa was die Qualifikation der Ältesten und Diakone betrifft. Oder dem Verhalten gewisser Personenkreise in der Gemeinde, die Witwen, die Sklaven und so weiter. Bis hin zur Ermahnung, im Gebet zu bleiben, nicht nur für die eigenen Bedürfnisse, sondern für alle Menschen, einschließlich der Machthaber. Und dazwischen finden sich auch noch sehr persönlicher Ermahnungen für Timotheus selbst. Bei alldem scheint es Paulus sehr darauf angekommen zu sein, praktisch zu bleiben. Die Timotheusbriefe sind keine theoretischen Briefe, die die Lehre des Paulus ausführlich darlegen, wie wir das etwa im Römerbrief oder Galaterbrief Großteils finden. Es geht ja auch darum, einen Mitarbeiter zu stärken und über ihn die ganze Gemeinde.

Das ist der geschichtlich Hintergrund auf dem wir den Timotheusbrief sehen müssen. Es ging also Paulus im Wesentlichen darum, die Gemeinde und den Timotheus selbst gegen die Gesetzeslehrer zu unterstützen, die auch in Ephesus Einfluss zu nehmen drohten. Das Mittel dazu war die Unterweisung. Timotheus sollte die Lehre des Paulus in Erinnerung rufen und ermahnen dabei zu bleiben. Was aber ist das Ziel dieser Unterweisungen? In Vers 5 haben wir die Schlüsselaussage zum Timotheusbrief. Das von Paulus vorgegebene Ziel, oder noch mehr, das Ziel des Glaubens überhaupt.
»Die Hauptsumme aller Unterweisung aber ist die Liebe aus reinem Herzen und aus gutem Gewissen und aus ungefärbten Glauben«
In älteren Übersetzungen wird manchmal geschrieben die Hauptsumme aller Gebote. Das ist aber nicht so gut übersetzt, denn es erinnert an die 10 Gebote die ein Bestandteil des mosaischen Gesetzes sind. Dies würde besser passen zu dem was wir oben gesagt haben: »die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung«, deshalb wäre das auch nicht grundsätzlich falsch übersetzt. Aber es wurde im neueren Übersetzungen abgeändert, weil es hier Paulus offensichtlich um etwas anderes geht. Denn er verwendet ein anderes Wort als das für das mosaische Gesetz gebräuchliche »Nomos«, das das unveränderliche, weil göttliche Gesetz bezeichnet, das was in Moses gegeben und in Christus erfüllt worden ist, wie wir in der ersten Predigt der Serie gesehen haben. Hier verwendet Paulus aber das Wort »Paraggelia«, das heute eben mit Unterweisung übersetzt wird. Das ist ein Begriff aus der Justiz und dem Militärwesen und bezeichnet einen Befehl, oder eine Anordnung für eine konkrete Situation. Die Situation eben, in der Paulus die Epheser mit dem Timotheus zurücklassen musste und weswegen er diese Briefe schrieb. Die Hauptsumme, oder das Ziel (griech. Telos) der Anweisungen und Anordnungen, die als Unterweisung der Gemeinde gegeben werden sollen, ist also die Liebe, aus reinem Herzen, gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben.

Warum ist dieser Unterschied so wichtig? Das beantwortet Paulus ja gleich danach auch, wenn er sagt, dass von eben dieser Liebe einige abgeirrt sind. Sie, die der Schrift Meister sein wollen. Wer ist damit gemeint? Hier kommt nun wieder das Wort »Nomos« (Gesetz) ins Spiel. Abgeirrt sind nämlich die »Nomosdidaskalos«, die Lehrer des Gesetzes, die zwar den Buchstaben des Gesetzes verfolgen, aber seinen Sinn nicht verstehen. Diesen Gesetzeslehrern aber stellt Paulus kein neues, anderes Gesetz entgegen. Auch in dem was Paulus dem Timotheus danach schreibt, ist daher kein Gesetz zu sehen, sondern es sind Anweisungen, um die Gemeinde zu stärken und in einem Glauben zu festigen, der Liebe hervorbringt und nicht tote Gesetzeswerke.

Freilich muss auch hier wieder Paulus davor warnen, das Gesetz an sich als etwas Schlechtes zu betrachten. Paulus hat Moses nicht verworfen, aber er hat ihm seinen Platz dort zugewiesen, wo er heilsgeschichtlich hingehört. Das Gesetz ist ja gut. Auch ist nichts dagegen zu sagen, dass es jemand halten möchte. Jeder Mensch kann sich an alles halten, was er in der Schrift findet, so es ihm überhaupt praktisch möglich ist. Es wird nicht möglich sein, denn viele Gesetze sind ja kultischer Natur, gebunden an die Existenz eines Tempels oder zumindest der Stiftshütte und das gibt es ja nun nicht mehr. Aber auch so ist es jedem freigestellt, zum Beispiel gewisse Tiere nicht zu essen, oder besondere Feiertage zu halten usw. Aber jedermann soll wissen, dass das Gesetz ursprünglich nicht den Gerechten gegeben wurde, sondern den Ungerechten. Es wurde, wie wir schon das letzte mal gesehen haben, eingeführt, um die Sünde der Menschen offenbar zu machen. Das betont Paulus auch hier wieder. Das Gesetz sollte nun ganz klar zeigen, was Gott nicht wollte. Es sollte das Gewissen der Menschen reparieren. Denn wie wir ja wissen, tun wir böse Dinge ohnehin nicht so ohne Weiteres. In jedem Menschen regt sich ein Gewissen. Doch dieses Gewissen ist veränderbar, man kann es sozusagen umprogrammieren, sodass es nicht mehr richtig funktioniert, oder auch gar nicht mehr, wir sprechen dann von gewissenlosen Menschen. Und deshalb war es notwendig, dass in einem Gesetz festgeschrieben wurde, wie Gott sich die Gemeinschaft mit dem Menschen im Prinzip vorstellte. Wie der Mensch sein müsste, damit sich der Vorhang öffnet und Gott mit ihm Gemeinschaft haben könnte. In dem Moment, wo das festgelegt war, gab es keine Diskussion mehr. Der Mensch war als Sünder entlarvt.

Nun stehen wir aber, wie wir auch schon das letzte mal gesehen haben, als die Gerechten vor Gott. Nicht dem Zustand nach, aber der Stellung nach, denn wir sind von Christus, der das Gesetz erfüllt hat gerecht gemacht worden. Wir sind sein. Jetzt besteht aber Paulus darauf, dass diesem Gerechten kein Gesetz gegeben worden ist. Es ist hier betont: KEIN Gesetz, nicht das mosaische, aber auch kein paulinisches, nein überhaupt keines. Es ist hier die stärkste Form der Verneinung ausgedrückt die die griechische Sprache kennt. Deshalb ist es Unmöglich, doch noch etwas anderes an diese Stelle zu setzen.

Was müssen wir also abschließend sagen? Paulus hat dem Gesetz die Liebe entgegengestellt – die Liebe im Heiligen Geist, wie wir im Galaterbrief gesehen haben. Nur diese Liebe und sonst nichts macht es möglich, dass wir in diesem Leben nicht nur der Stellung nach, sondern letztendlich doch noch dem Zustand nach vor Gott gerecht werden. Diese Liebe aber kennt kein Gesetz und dennoch erfüllt sie alles was Gott haben will. Aber es ist keine Liebe, die irgendetwas von dem in sich hat, was landläufig unter Liebe verstanden wird. Davon ist noch zu sprechen und kann nicht genug gesprochen werden. Ich werde auch versuchen in meiner nächsten Predigt eine deutliche Brücke zu schlagen, von der Freiheit in Christus, zu der wir berufen sind, zur Liebe. Es ist eine Liebe, die es schafft das eigene Gewissen wieder richtig zu programmieren. Deshalb braucht sie auch kein Gesetz mehr. Liebe aus reinem Herzen (dem Zustand nach gerecht) aus gutem Gewissen (vom Geist Gottes geleitet) und aus ungeheucheltem Glauben.

Diesen ungeheuchelten Glauben, wahr, aufrichtig – authentisch um es mit einem Modewort zu sagen – schenke uns der heilige Geist. Kein Glaube, der sich hinter Frömmigkeitsfassaden verbirgt, sondern einer der heraustritt und handfeste Ergebnisse der Nächstenliebe hervorbringt.

Amen.